Aber die Männer hatten ihren Frauen versprochen, keinerlei Spuren der Aktion zu hinterlassen, und bemühten sich daher nach Kräften, Kadaver und Kadaverteile einzusammeln und das Blut vom Efeu und von den Wänden des Hühnerstalls abzuspülen. Dabei entdeckten sie, dass in dem Hühnerstall nie Hühner gewesen waren, und was daraus bezüglich Anfisa Telyegins täglicher Körnerlieferungen in den Stall zu schließen war ... Ja, was daraus bezüglich Anfisa Telyegins Person zu schließen war .
Johnny Hart sagte: »Die Frau ist geisteskrank«, und Beau Downey meinte: »Wir müssen sie hier wegkriegen.« Doch bevor es über diese Meinungsäußerungen zur Diskussion kommen konnte, wurde das schiefe alte Gartentörchen aufgedrückt, und Anfisa selbst trat in den Garten.
Der Plan war nicht gründlich genug überlegt worden, um zu berücksichtigen, dass infolge der Zwischenprüfungen der Unterricht am College an diesen Abend früher als sonst enden würde. Und er war nicht gründlich genug überlegt worden, um in Betracht zu ziehen, wie der Efeu in Anfisa Telyegins Garten aussehen würde, nachdem acht Mann in Kettenformation durch ihn hindurchgetrampelt waren.
Anfisa Telyegin warf nur einen Blick auf ihren verwüsteten Garten - im Schein der Straßenlampe vor ihrem Grundstück deutlich zu erkennen - und stieß einen Mark erschütternden Schrei aus, der bis zur Bushaltestelle zu hören war.
Sie schrie, weil sie ihren Efeu liebte und entsetzt darüber war, was ihm angetan worden war. Vor allem aber schrie sie, weil sie intuitiv wusste, was diese Verwüstungen in ihrem Garten zu bedeuten hatte.
»O mein Gott!«, heulte sie klagend. »Nein! Nein!«
Es gab keinen anderen Weg vom Grundstück als den durch den Vorgarten, und als die Männer einer nach dem anderen hervortraten, fanden sie Anfisa mitten im zertrampelten Efeu kniend. Die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich unaufhörlich vor und zurück.
»Nein! Nein!«, schrie sie immer wieder und begann zu weinen. »Sie wissen nicht, was Sie getan haben.«
Damit konnten die Männer nicht umgehen. Ratten totschlagen, ja, okay, das war genau ihr Ding. Aber eine fremde Frau trösten, deren Leiden sie überhaupt nicht verstanden ...? Nein, das war nichts für sie. Lieber Himmel, sie hatten der armen Irren doch einen Gefallen getan! Na schön, der Efeu hatte dabei einiges abbekommen, aber Efeu gedieh wie Unkraut, und vor allem in diesem Garten. In spätestens einem Monat würde alles wieder beim Alten sein.
»Ich hol Willow«, sagte Scott McKenna, während Owen Gilbert gleichzeitig murmelte: »Ich hole Leslie«. Die anderen suchten so schnell sie konnten das Weite, mit schuldbewussten Mienen wie kleine Jungen, die vielleicht zu viel Spaß dabei hatten, irgendwelche Dummheiten zu machen, für die sie bald ihre Strafe bekommen würden.
Willow und Leslie stürzten aus Rose Harts Küche zu Anfisa, die weinend und schwankend in ihrem Garten hockte und sich mit den Fäusten auf die Brust trommelte.
»Könnt ihr sie hineinbringen?«, sagte Scott McKenna zu seiner Frau.
Und Owen Gilbert sagte zu Leslie: »Mach ihr klar, dass es nur ein Haufen Efeu ist, Les. Er wächst nach. Und es ging nicht anders.«
Willow, die mit solch intensivem Einfühlungsvermögen geschlagen war, musste angesichts des Schmerzes der alten Frau selbst gegen einen Ausbruch von Gefühlen ankämpfen. Sie hatte geglaubt, sie würde nach der Beseitigung der Ratten einzig Erleichterung verspüren; die Schuldgefühle und das Mitleid, das sie überkamen, verwirrten sie unendlich und trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie räusperte sich und sagte zu Leslie: »Würdest du ...?« Dann beugte sie sich zu Anfisa hinunter und nahm sie beim Arm. »Miss Telyegin«, sagte sie, »es ist alles gut. Glauben Sie mir. Alles wird gut. Kommen Sie, gehen wir ins Haus, ja? Dürfen wir Ihnen eine Tasse Tee machen?«
Mit vereinten Kräften halfen sie und Leslie der schluchzenden Frau auf, und während sich drüben in Rose Harts Vorgarten die anderen Frauen aus der Nachbarschaft versammelten, stiegen Willow und Leslie die Treppe zu Nummer 1420 hinauf und halfen Anfisa dabei, die Tür zu öffnen.
Scott folgte. Nach dem, was er im Hühnerstall erlebt hatte, dachte er nicht daran, seine Frau allein in dieses Haus gehen zu lassen. Wer konnte sagen, was sie da drinnen vorfinden würden.
Doch seine Fantasie hatte ihm falsche Bilder gezeigt. In Anfisa Telyegins Haus gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Als er das sah, schämte er sich seiner finsteren Erwartungen. Er entschuldigte sich und überließ es Leslie und Willow, Anfisa Telyegin zu trösten, so gut sie konnten.
Leslie setzte Wasser auf. Willow suchte den Tee und Tassen. Und Anfisa setzte sich an den Küchentisch und stieß mit zuckenden Schultern schluchzend hervor:
»Verzeiht mir. Bitte verzeiht mir!«
»Aber Miss Telyegin«, murmelte Willow besänftigend, »solche Dinge kommen vor. Da gibt es nichts zu verzeihen.«
»Ihr habt mir vertraut«, sagte Anfisa weinend. »Es tut mir Leid, was ich getan habe. Ich werde das Haus verkaufen. Ich werde woanders hinziehen. Ich suche etwas -«
»Aber das ist doch nicht nötig«, unterbrach Willow sie. »Keiner von uns möchte, dass Sie von hier wegziehen. Wir möchten nur, dass Sie sich hier, auf Ihrem Grund und Boden, sicher fühlen können. Wir möchten uns alle sicher fühlen.«
»Ach, was ich euch angetan habe«, rief Anfisa unter Tränen. »Nicht nur einmal, sondern zweimal. Das könnt ihr mir nicht verzeihen.«
Bei diesem »sondern zweimal« wurde Leslie Gilbert schlagartig und mit Unbehagen klar, dass die Russin und Willow McKenna aneinander vorbeiredeten. »Hey, Will«, sagte sie warnend im selben Augenblick, als Anfisa ausrief: »Ach, meine liebsten kleinen Freunde. Alle seid ihr tot.«
Da erst begriff mit einem kalten Schauder auch Willow.
Sie sah Leslie an. »Meint sie damit ...«
»Richtig, Will. Ich glaube, die meint sie.«
Erst zwei Wochen später, als Anfisa Telyegin vor ihrem Haus in der Napler Lane ein Verkaufsschild aufgestellt hatte, erfuhr Willow McKenna von ihr die ganze Geschichte. Sie ging mit einem Teller Weihnachtsplätzchen als versöhnliche Geste zu ihr hinüber, und anders als bei ihrem letzten Besuch mit den Schokonussschnitten machte Anfisa ihr diesmal die Tür auf. Mit einem Kopfnicken bat sie Willow ins Haus. Sie führte sie in die Küche und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie hatte in den vergangenen zwei Wochen offenbar nicht nur getrauert, sondern diese Zeit auch zu reiflicher Überlegung genutzt und den Entschluss gefasst, Willow einen Blick in ihre Welt zu gestatten.
»Zwanzig Jahre lang«, sagte sie, als sie sich zusammen an den Tisch setzten. »Ich habe mich geweigert, so zu werden, wie sie mich haben wollten, und ich habe mir nicht den Mund verbieten lassen. Da haben sie mich deportiert. Zuerst kam ich nach Lubyanka, wissen Sie, was das ist? Vom KGB geführt. Ein grauenvoller Ort. Von dort nach Sibirien.«
»Sie waren im Gefängnis?«, fragte Willow leise.
»Gefängnis wäre schön gewesen. Das war ein Konzentrationslager. Ach Gott, ich habe oft genug gehört, wie Ihre Landsleute ihre Witze über Sibirien machen - ha, ha, ha, die Salzbergwerke von Sibirien. Ja, das habe ich oft genug gehört. Aber wirklich dort zu sein, ohne einen Menschen, jahrelang. Vergessen zu sein, weil die wichtige Stimme, die Stimme, die zählte, die des Geliebten war, während man selbst, solange er am Leben war, bloß als Handlangerin angesehen und von keinem ernst genommen wurde, bis die Behörden einen plötzlich ernst nahmen. Es war eine schreckliche Zeit.«
»Sie waren -?« Wie nannte man das gleich wieder? Willow versuchte, sich zu erinnern. »Eine Dissidentin?«
»Eine Stimme, die ihnen nicht passte. Die sich nicht mundtot machen ließ, die lehrte und schrieb, bis sie kamen, um sie abzuholen. Erst war es Lubyanka. Dann war es Sibirien. Und dort in der Zelle, da kamen die Kleinen zu mir. Zuerst hatte ich Angst vor ihnen. Der Schmutz. Die Krankheiten. Ich verscheuchte sie. Aber sie kamen trotzdem. Sie kamen immer wieder und beobachteten mich. Und da sah ich, dass sie auch Angst hatten. Sie wollten nur wenig. Ich gab ihnen ein bisschen zu essen. Brot. Ein Fetzchen Fleisch, wenn ich welches hatte. Da sind sie geblieben, und ich war nicht mehr allein.«