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»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Howard. »Erst muss ich frühstücken.«

Auch Noreen Tucker hätte sich also durchaus als Ziel eines mörderischen Anschlags angeboten, nicht wahr? Sie stocherte mit Vorliebe in Wespennestern herum und wusste kaum etwas Befriedigenderes, als die Brut so richtig in Rage zu bringen. Dabei war ihr aber nicht klar, was sie tat. Sie hatte, ungeachtet der Nebenwirkungen ihrer Sticheleien, nur ein Ziel im Auge: Bei jedem Gespräch das Thema zu bestimmen, weil sie dann den Lauf des Gesprächs dirigieren und so stets die Nase vorn haben konnte. Die Nase vorn haben hieß, im Mittelpunkt stehen. Und wenigstens hier in Cambridge im Mittelpunkt zu stehen, das entschädigte ein wenig dafür, dass sie nirgends sonst dieses Glück genoss.

Das Problem war Victoria Wilder-Scott, die Dozentin, eine konfuse Person, die mit Vorliebe in Khakiblusen und karierten Baumwollröcken herumlief und bei den Seminardiskussionen unweigerlich und sicher nicht absichtlich so saß, dass ihr jeder bis Gott weiß wohin unter den Rock sehen konnte. Victoria ging es einzig darum, ihnen die Köpfe mit Detailwissen über britische Architektur vollzustopfen. Der Klatsch, der bei den Sommerkursen anfiel, interessierte sie nicht im Geringsten.

Sie und Noreen waren einander von Anfang an nicht sympathisch gewesen und fochten seit dem ersten Tag einen höflichen aber erbitterten Kampf um die Vorherrschaft im Klassenzimmer aus. Noreen versuchte beharrlich, sie mit penetranten und im Allgemeinen absurden Fragen über das Privatleben der Architekten, mit deren Werken sie sich befassten, auf Nebengleise zu locken: Ob Christopher Wren die barocken Formen, die er seinen Bauten gegeben hatte, auch bei Frauen bevorzugt habe. Ob sich hinter Adams streng klassizistischer Bauweise vielleicht eine unbezwingbar sinnliche Natur verberge. Doch Victoria Wilder-Scott pflegte Noreen nur mit leerem Blick anzustarren, wie jemand, der auf eine Übersetzung wartet, und die Fragen dann mit einem »Ja, hm ...« wegzufegen wie eine lästige Mücke.

Vom ersten Unterrichtstag an war es ihr ein Anliegen gewesen, die Teilnehmer ihres Seminars über die Geschichte der britischen Architektur auf den Besuch von Abinger Manor vorzubereiten. Das alte Herrenhaus im Herzen des ländlichen Buckinghamshire vereinte in sich alle in Großbritannien bekannten architektonischen Stilrichtungen und war zugleich eine Fundgrube an kulturellen Schätzen, die vom kostbaren Rokokosilber bis zu Gemälden von der Hand englischer, flämischer und italienischer Meister reichten. Victoria zeigte ihrer Gruppe eine endlose Folge von Dias - gewölbte Decken, verzierte Giebel, Marmorsäulen mit vergoldeten Kapitellen, kunstvoll gemeißelte Wasserspeier und gezähnte Gesimse - und wenn die Gehirne ihrer Schüler mit archi­tektonischen Details gesättigt waren, speiste sie sie zum Nachtisch mit Dias von Porzellan, Silber, Skulpturen, Gobelins und Möbeln. Dieser Landsitz, Abinger Manor, erklärte sie ihnen, sei das Kronjuwel englischer Herrenhäuser. Es war erst seit kurzem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, und wer es besichtigen wollte und nicht das Glück hatte, in einem einschlägigen Sommerseminar an der Universität Cambridge eingeschrieben zu sein, musste mit einer Wartezeit von mindestens zwölf Monaten rechnen, immer vorausgesetzt, er war gewillt, sich tagelang ans Telefon zu hängen, um überhaupt zur Anmeldung durchzukommen.

»Internet-Buchungen und ähnlichen Unsinn gibt es in Abinger Manor nicht«, teilte Victoria Scott-Wilder ihnen mit. »Hier hält man an den alten Sitten fest.« Die selbstverständlich die einzig richtigen waren.

Dieses Denkmal vergangener Zeiten - ganz zu schweigen von Sitte und Anstand - würden sie nun also in wenigen Stunden nach einer ziemlich langen Fahrt über Land zu sehen bekommen.

Es war vereinbart, dass man sich an diesem Morgen beim Queen's Gate treffen würde, an der Mündung der Garett Hostel Lane, an deren Ende der gemietete Kleinbus wartete. Hier, wo die versammelten Exkursionsteilnehmer ihre Lunchpakete in Empfang nahmen und mit den üblichen säuerlichen Kommentaren über Anstalts­verpflegung begutachteten, stießen endlich Sam Cleary und seine Frau Frances zur Gruppe, er sichtlich gedämpft, sie mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter.

Wenn man aus der Art der Kleidung auf den Ausgang ihrer nächtlichen Auseinandersetzung schließen konnte, so war Sam eindeutig als Sieger daraus hervorgegangen: Tipptopp sah er wieder einmal aus in einem feschen Sportsakko mit Querbinder, der raffiniert auf die waldgrünen Töne seiner Tweedhose abgestimmt war. Frances dagegen, schlabberiges Hemd und schlabberige Hose, beides um Nummern zu groß, sah aus wie ein Flüchtling der Kulturrevolution.

Polly schien bestrebt, den Bruch, den sie möglicherweise zwischen Sam und Frances verursacht hatte, zu kitten. Immerhin war sie beinahe fünfzig Jahre jünger als Sam und hatte zu Hause in Chicago einen Freund. Sie hatte sich von den Aufmerksamkeiten eines älteren Mannes - eines echt alten Mannes, wie sie es formuliert hätte - vielleicht geschmeichelt gefühlt, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch nur daran gedacht hätte, die Flamme von Sams Interesse zu einem Feuer der Leidenschaft zu schüren. Er sah zwar wirklich sehr gut aus mit dem vollen weißen Haar und der gesunden Röte auf den Wangen, aber er war nun einmal alt, darum kam man nicht herum, und nicht zu vergleichen mit Pollys David, auch wenn David bislang unglücklicherweise beinahe krankhaft auf das Studium der Brüllaffen fixiert war.

Polly rief also den Clearys ein munteres Guten Morgen zu und winkte ihnen mit ihrem Fotoapparat. Sie hatte für die Exkursion ein Riesenteleobjektiv aufgeschraubt, das ihren Zwecken im Moment sehr dienlich war. Es erlaubte ihr, Sam und seine Frau zu fotografieren und dabei sicheren Abstand zu halten. »Bleibt mal einen Moment dort bei der Blumenrabatte stehen«, sagte sie. »Die Farben sehen ganz toll aus zu deinem Haar, Frances.«

Frances' Haar war grau. Nicht schneeweiß, wie sich das bei manchen Frauen so gut machte, sondern schlacht­schiffgrau. Von beneidenswerter Fülle zwar, aber so fade und stumpf in der Farbe, dass sie selbst in ihren besten Momenten alt und griesgrämig wirkte. Und da dies nicht unbedingt einer ihrer besseren Momente war, sah sie entsprechend aus.

»Unglaublich, wie Schlafmangel sich auswirken kann, nicht wahr?«, bemerkte Noreen Tucker viel sagend, als die Clearys sich der Gruppe näherten, nachdem sie sich bereitwillig - zumindest was Sam betraf - von Polly hatten fotografieren lassen. »Ralph, Liebling, du hast doch dein Studentenfutter nicht vergessen? Krisen in den heiligen Hallen von Abinger Manor können wir heute Morgen nicht gebrauchen.«

Ralph wies mit abwärts gedrehtem Daumen zu seinem Bauch hinunter, eine Antwort, die leicht zu interpretieren war: Der Plastikbeutel mit dem Studentenfutter quoll aus seiner Safarijacke hervor wie der Schwanz eines jungen Beuteltiers.

»Sobald du merkst, dass du zittrig wirst, schiebst du dir auf der Stelle eine Hand voll in den Mund«, instruierte ihn Noreen, »und wartest nicht erst auf irgendjemandes Erlaubnis, ist das klar?«

»Alles klar, alles klar.« Ralph schlurfte zu den wartenden Lunchpaketen hinüber und bückte sich keuchend, um zwei aus dem Korb zu nehmen.

»Der Mann kann von Glück sagen, wenn er die Sechzig schafft«, sagte Cleve Houghton zu Howard Breen.

»Was tun Sie eigentlich für Ihre Gesundheit?«

»Ich dusche nur mit Freunden«, antwortete Howard.

Victoria Wilder-Scott gesellte sich zu ihnen. In Khaki und Karo, die Brille ins Haar geschoben, ein dickes Ringbuch an die Hühnerbrust gedrückt, kam sie ihnen entgegen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie ihre Kursteilnehmer, offensichtlich perplex darüber, dass sie sie nur verschwommen erkennen konnte. Einen Augenblick später wurde ihr klar, weshalb.

»Ach so, die Brille«, sagte sie und zog diese auf ihre Nase herunter, während sie geschäftig zu sprechen fortfuhr. »Sie haben alle die Broschüren gelesen? Und das zweite Kapitel vonGreat Houses of the British Isles? - Gut, dann haben wir also alle eine klare Vorstellung davon, was uns an Sehenswürdigkeiten in Abinger Manor erwartet? Die großartige Sammlung von Meißner Porzellan, die zum Teil in Ihrem Lehrbuch abgebildet ist. Die edelste in ganz England. Die Gemälde von Gainsborough, Le Brun, Turner, Constable und Reynolds. Diesen wunderschönen Whistler. Und den Holbein. Das Rokoko-Silber. Einige außergewöhnliche Möbelstücke. Die italienischen Skulpturen. Die prächtigen historischen Trachten und Kostüme. Die Gartenanlagen sind übrigens eine Pracht, mit Sissinghurst vergleichbar. Und der Park ... Tja, wir haben leider nicht die Zeit, alles zu besichtigen, aber wir werden unser Bestes tun, nicht wahr? Sie haben alle Ihre Hefte dabei? Und Ihre Fotoapparate?«