Charlie versuchte, sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein musste: Erwachsen zu werden, sich zum reifen Mann zu entwickeln, und immer das Wissen mit sich herumzuschleppen, dass er seinen Bruder getötet hatte. Sie waren auf Vogeljagd gewesen, im Morgengrauen draußen am Rand der Wüste, wo die Tauben überwinterten. Sie waren schon von Kindheit an regelmäßig auf Vogeljagd gegangen, zuerst mit ihrem Vater und später - als Brent alt genug war, um selbst Auto zu fahren - allein. Und auf ihrem zweiten Ausflug war es zu dem Unfall gekommen.
»Sie haben dir wahrscheinlich schon vor Jahren verziehen«, sagte sie tröstend zu ihrem Mann. »Hast du mal versucht, mit ihnen Verbindung aufzunehmen?«
»Ich möchte es nicht in ihren Augen sehen. Wenn sie mir ins Gesicht schauen und versuchen so zu tun, als wäre nichts als Liebe in diesem Blick.«
»Aber es ist sicher kein Hass darin.«
»Nein, das nicht. Aber Schmerz, an dem ich schuld bin. Weil ich ungeschickt war. Leichtsinnig. Ich habe das Gewehr nicht richtig gehalten und nicht darauf geachtet, wie ich meine Füße setze.«
»Du warst erst fünfzehn«, wandte Charlie ein.
»Alt genug.«
Wofür?, fragte sie sich. Aber nach einer Weile fand sie die Antwort: Alt genug, um verschwinden zu können.
Aber sie hatten trotz allem ein Recht, zu erfahren, dass er tot war, und darum beschloss sie, Marilyn und Clark Lawton, deren Wohnort sie nicht kannte, ausfindig zu machen und vom Schicksal ihres Sohnes zu informieren. Sie wusste, dass Eric das gewollt hätte. Die Tatsache, dass er im Wohnzimmer eine wahre Galerie von Familienbildern aufgebaut hatte, war Beweis genug, dass ihm der Verlust des elterlichen Zuhauses bis zuletzt schmerzlich bewusst gewesen war.
Am Tag nach seiner Beerdigung trat sie vor das Regal mit den Fotos. Benommenheit und Gliederschmerzen plagten sie nach dem Trauma der vergangenen Woche. Sie hatte immer noch ein Kratzen im Hals - schon seit dem Abend von Erics Tod - und kämpfte seit Tagen vergeblich gegen das Gefühl einer fiebrigen Schwäche. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war, sich normal und gesund zu fühlen. Aber es gab so viel zu tun.
Die Bilder standen wie Eindringlinge zwischen den Büchern rechts und links vom offenen Kamin. Sie wusste, wer die Personen auf den Fotos waren, weil Eric es ihr mehrmals gesagt hatte. Aber er hatte sie alle nur beim Vornamen benannt, was ihr unter den gegebenen Umständen wenig Hilfe war. Tante Marianne bei der Abschlussfeier nach der High School; Großtante Shirley mit ihrem Mann Pat; Großmutter Louise (väterlicher oder mütterlicherseits, Eric?), Onkel ROSS, Brent, als er sieben war; Mutter mit zehn, Dad mit dreizehn; die Eltern an ihrem Hochzeitstag; Großvater und seine Brüder; Großmama Jessie-Lynn. Sie wusste nicht einen einzigen Nachnamen außer dem seiner Eltern. Und ein Blick ins Telefonbuch zeigte ihr, dass in der näheren Umgebung keine Lawtons mit den Vornamen Clark oder Marilyn lebten.
Das hatte sie allerdings auch nicht erwartet. Sie hatte es gehofft, aber ihr war natürlich klar gewesen, dass Jagdausflüge an den Rand der Wüste auf einen Ort hindeuteten, der in noch trockeneren Regionen lag als der Vorort von Los Angeles, wo sie und Eric ihr Haus gekauft hatten.
Sie zog eine Karte von Kalifornien zu Rate und erwog, ihre Suche ganz im Süden zu beginnen, unten an der Staatsgrenze. Sie könnte über die Telefonauskunft sämtliche Orte entlang des Highways 805 abgrasen. Aber sie kam nicht weit über Paradise Hills hinaus, bevor sie sich dieses aufwändige Unternehmen aus dem Kopf schlug.
Sie kehrte zu den Bildern zurück und nahm sie alle vom Regal mit in die Küche, wo sie sie vorsichtig auf der Arbeitsplatte aus Granit niederlegte. Es waren alte Aufnahmen, die letzte war die von Brent im Alter von sieben Jahren, einige sogar sorgsam gehütete Ferrotypien. Aber manchmal vermerkten die Leute hinten auf ihren Fotos, wen sie zeigten, und wo und wann sie aufgenommen waren, und wenn Erics Verwandte das auch so gehalten hatten, würde sie vielleicht hier einen Hinweis auf ihren Verbleib entdecken.
Sie entfernte vorsichtig den Rücken jedes Rahmens und inspizierte die Rückseiten der Fotografien. Nur auf zwei von ihnen fand sie einen Vermerk. Auf dem Bild von Erics Bruder stand, von zierlicher Hand geschrieben: Brent Lawton, sieben Jahre alt, Yosemite, und hinten auf dem Foto einer der Großmütter hieß es in krakeliger Schrift: Jessie-Lynn kurz vor Merles Hochzeit. Das war alles, was sie fand.
Seufzend begann sie, die Fotos wieder in ihre Rahmen zu schieben: Glas, Bild, Pappverstärkung, samtüberzogener Rücken.
Als sie sich das Hochzeitsfoto der Lawtons vornahm, sah sie, dass neben Glas, Foto, Verstärkung und Rücken noch etwas im Rahmen gesteckt hatte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass das Fotopapier um so dünner wurde, je jünger die Aufnahme war. Wie dem auch sein mochte, hinter das Hochzeitsfoto hatte jemand eine zusätzliche Füllung eingeschoben, um dafür zu sorgen, dass das Bild stramm im Rahmen saß. Es handelte sich um einen zusammengefalteten Zettel, der sich, geglättet, als leeres Blatt von einem Rechnungsblock entpuppte, oben mit den WortenTime on My Side und einer Adresse in der Front Street in Temecula, Kalifornien, bedruckt.
Charlie holte wieder ihre Karte. Erregung und triumphierende Gewissheit durchzuckten sie, als sie Temecula am Rand der Wüste fand, direkt an einem anderen Wüsten-Freeway gelegen, als wartete es nur darauf, ihr seine Geheimnisse preiszugeben.
Sie fuhr nicht sofort los. Eigentlich hatte sie gleich am nächsten Tag aufbrechen wollen, aber als sie erwachte, war das Kratzen in ihrem Hals zu brennendem Schmerz geworden, und die Gliederschmerzen hatten sich in Schüttelfrost verwandelt. Das war mehr als nur Erschöpfung und Kummer, das war eine ausgewachsene Grippe.
Sie war niedergeschlagen, aber nicht sonderlich überrascht. Sie lebte ja seit Tagen einzig von ihrer Nervenkraft, praktisch ohne zu essen und zu schlafen. Kein Wunder, dass es sie erwischt hatte.
Widerwillig schleppte sie sich in den Drugstore und inspizierte mit tränenden Augen die Regale mit den Erkältungs- und Grippemitteln, die schnelle und wirkungsvolle Bekämpfung - oder wenigstens vorübergehende Lahmlegung - des bösartigen kleinen Bazillus versprachen, der sich in ihrem Körper eingenistet hatte. Sie kannte die allgemeine Empfehlung, reichlich Flüssigkeit und Bettruhe, und kaufte daher gleich einen großen Vorrat an Dosensuppen ein. Hauptsache, die Mikrowelle funktionierte, sagte sie sich, dann konnte ihr nichts passieren. Erics Familie musste eben die vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden warten, die sie brauchen würde, um wieder zu Kräften zu kommen.
So kam es, dass sie erst zwei Tage später die Fahrt nach Temecula antrat. Aber nicht allein, sondern in Begleitung von Bethany Franklin. Sie fühlte sich nach achtundvierzig Stunden Bettruhe, die nur von Exkursionen zum Kühlschrank und zur Mikrowelle gestört worden war, zwar wieder einigermaßen frisch, aber nicht so frisch, dass sie sich zutraute, eine solche Strecke ganz allein zu fahren.
Bethany hielt nichts von der ganzen Idee. »Du schaust zum Erbarmen aus«, sagte sie unumwunden, als sie in einem schnittigen kleinen BMW, der ihr ganzer Stolz war, angebraust kam. »Du solltest dich lieber ins Bett legen, anstatt in der Gegend herumzugondeln und eine Großfahndung nach - wen suchen wir überhaupt?«
Sie hatte einen Beutel Cheetos mitgebracht - »das reine Manna«, behauptete sie, den Beutel schwenkend, als wollte sie ein Taxi anhalten - und kaute genüsslich, während sie Charlie in die Küche folgte.
Charlie nahm die Fotografie von Erics Eltern und das Rechnungsformular der FirmaTime on My Side.
»Ich möchte mit seinen Eltern sprechen«, erklärte sie.
»Ich weiß nicht, wo sie leben. Das hier sind die einzigen Hinweise, die ich habe.«
Bethany nahm das Bild und das Rechnungsformular an sich, während Charlie berichtete, wo sie Letzteres gefunden hatte. »Warum rufen wir nicht einfach dort an, Charles?«, schlug sie vor. »Die Nummer steht doch drauf.«