»Und wenn das Geschäft, oder was es ist, Erics Eltern gehört? Was sagen wir dann?«, fragte Charlie. »Wir können doch nicht eiskalt am Telefon ...« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Schon wieder. Vergiss nie, dass ich dich liebe, Char. »Das ist unmöglich, Beth. Das können wir nicht machen.«
»Okay, da hast du Recht. Per Telefon geht das nicht. Aber du bist nicht fit genug für so eine Fahrt. Lass mich das erledigen, wenn es dir so wichtig ist.«
»Nein, mir geht's gut. Ich fühle mich wieder viel besser. Es war nur eine Grippe.«
Sie schlossen einen Kompromiss: Sie würden nicht mit offenem Verdeck fahren, und Charlie würde eine Thermosflasche mit Nudelsuppe und einen Karton Orangensaft mitnehmen, um sich auf der langen Fahrt nach Südosten immer wieder zu stärken. Nachdem das vereinbart war, fuhren sie los, den Highway 15 hinunter, der sich wie eine Betonschlucht durch die felsigen Berge zwängte, die die kalifornische Wüste vom Meer trennten. Geldgierige Baugesellschaften hatten das staubige Land hier ausgebeutet und zur Errichtung von Wohnsiedlungen missbraucht, die alle gleich aussahen - die Häuser eintönig mausgrau, von nicht einem Baum beschattet, mit Hohlpfannen nach italienischem Vorbild gedeckt, was den Schöpfer einer dieser Monstrositäten veranlasst hatte, seinem Werk völlig absurd den Namen »Toskana« zu geben.
Kurz nach ein Uhr mittags erreichten sie Temecula und fanden ohne Schwierigkeiten die Front Street. Sie umfasste jenen Teil des Orts, den die Stadtväter euphemistisch die »historische Altstadt« nannten, die schon lange vor der entsprechenden Ausfahrt mit großen Schildern auf dem Freeway angezeigt war.
Die »historische Altstadt« bestand aus mehreren Häuserzügen, die von der übrigen Stadt - dem neuen Teil - durch eine Eisenbahnlinie, den Freeway, ein kleines Gewerbegebiet und städtische Lagerhallen getrennt waren. Sie bildeten eine zweispurige Straße, in der es außer Souvenirläden, Antiquitätengeschäften und Restaurants nur noch ein paar Cafes und Eisdielen gab. Kurz, mit »historische Altstadt« war nichts anderes als das Touristenparadies gemeint. Vielleicht war hier früher einmal der Mittelpunkt des Orts gewesen, jetzt war das Viertel ein Anziehungspunkt für alle, die wenigstens einen Tag lang dem anonymen Meer endloser Vorstädte, das sich von Los Angeles nach allen Richtungen ausbreitete, zu entfliehen suchten. Es gab Holzbürgersteige und Adobehäuser, Backsteinbauten, getüncht oder ungetüncht, mit oder ohne Stuckverzierungen. Es gab farbenfrohe Wimpel, originelle Ladenschilder und einen großen Lageplan mit einem roten Sie-befinden-sich-hier-Punkt am Rand des öffentlichen Parkplatzes. Man war mitten in der Hauptstraße von Disneyland gelandet, ohne den unverschämten Eintrittspreis bezahlen zu müssen.
»Und du fragst mich, warum ich mich am liebsten überhaupt nicht aus LA fortbewege?«, sagte Bethany, als sie den Wagen in eine freie Lücke lenkte und sich schaudernd umsah. »Da hast du Südkalifornien in Hochform, meine Liebe. Kitsch und Nepp, so weit das Auge reicht. Mich erinnert das hier an Calico Ghost Town. Warst du da mal? Die einzige Geisterstadt auf der Welt, aus der jemand mit Erfolg ein Einkaufszentrum gemacht hat.«
Charlie lächelte und wies auf den Plan, der die so genannte historische Altstadt zeigte. »Komm, schauen wir uns den mal an.«
Sie stellten fest, dassTime on My Side zu den Geschäften gehörte, die sich im ersten Abschnitt der Touristenstraße befanden. Auf der Fahrt hatten sie gemeinsam überlegt, dass es wahrscheinlich ein Laden war, wo Uhren verkauft wurden, aber als sie hinkamen, sahen sie, dass es - wie so viele Geschäfte in der Straße - eine Antiquitätenhandlung war. Sie gingen hinein.
Leises Knurren empfing sie, gefolgt von einer mahnenden Männerstimme. »Hey, Maxie! Lass das!« Der Befehl war an einen Norwich Terrier gerichtet, der zusammengerollt auf einem alten Polstersessel lag. Daneben stand ein altmodischer Sekretär, an dem unter einer hellen Lampe ein Mann saß, der mit einer Klemmlupe eine Porzellanflasche prüfte. Er hob den Kopf und sah über den Ladentisch hinweg zu Bethany und Charlie hinüber.
»Entschuldigen Sie. Manche Leute verstehen das falsch. Es ist nur ihre Art, guten Tag zu sagen. Schlaf weiter, Maxie.« Der Hund schien zu verstehen. Er ließ den Kopf mit einem tiefen Seufzer wieder auf die Vorderpfoten sinken, und seine Augen begannen sich zu schließen.
Charlie betrachtete aufmerksam das Gesicht des Mannes, suchte eine Ähnlichkeit, hoffte, in diesen von den Jahren gezeichneten Zügen einen Eric zu entdecken, den sie so niemals erleben würde. Er hatte das richtige Alter, um Erics Vater sein zu können - etwa siebzig. Und er war schlank und drahtig wie Eric, hatte den gleichen offenen Blick und schien, so wie er unablässig mit einem Fuß gegen die Querleiste seines Stuhls klopfte, von der gleichen rastlosen Energie getrieben zu sein.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte er. »Sehen Sie sich in Ruhe um. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Charlie, während sie und Bethany näher traten, »suche ich eine Familie. Die Familie meines Mannes.«
Der alte Mann kratzte sich am Kopf. Er stellte die Porzellanflasche auf den Sekretär und legte die Lupe daneben. »Familien verkauf ich leider nicht«, sagte er mit einem Lächeln.
»Die, die wir suchen, heißt Lawton«, erklärte Bethany.
»Marilyn und Clark Lawton«, fügte Charlie hinzu.
»Wir - das heißtich hatte gehofft, Sie könnten uns vielleicht - Sie sind nicht zufällig Mr. Lawton?«
»Henry Leel«, sagte er.
»Oh.« Charlie war enttäuscht. Die Erkenntnis, dass der Mann nicht Erics Vater war, traf sie heftiger, als sie erwartet hatte. Sie sagte: »Nun ja, wir sind sowieso nur auf gut Glück hier herausgefahren. Aber ich hoffte trotzdem ... Sie kennen auch nicht zufällig hier im Ort eine Familie namens Lawton?«
Henry Leel schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Sind sie in der Antiquitätenbranche?« Er umfasste mit einer Handbewegung seinen Laden, der bis unter die Decke mit Möbeln und Trödel voll gestopft war.
»Ich weiß nicht ...« Charlie wurde plötzlich schwindlig, und sie hielt sich am Verkaufstisch fest.
Bethany nahm sie beim Arm. »Komm! Ich halt dich«, sagte sie und fügte, zu Henry Leel gewandt, hinzu: »Sie hat gerade erst eine Grippe überwunden. Und vor ungefähr einer Woche - ist ihr Mann gestorben. Seine Eltern wissen nichts davon, deswegen suchen wir sie.«
»Das sind die Lawtons?«, fragte Henry Leel, und als Bethany nickte, sah er Charlie mitleidig an. »So jung und schon Witwe! Das arme Ding.«
»Ja, sie ist wirklich noch viel zu jung, um schon Witwe zu sein. Und wie ich eben sagte, sie war krank.«
»Dann kommen Sie doch mit ihr hier rüber, da kann sie sich einen Moment setzen. - Maxie, runter vom Sessel! Los, mach schon. Du hast mich genau verstanden. - So. Warten Sie, ich nehme das Kissen runter, Miss - Mrs. - wie sagten Sie, ist Ihr Name?«
»Lawton«, antwortete Charlie. »Bitte entschuldigen Sie. Ich fühle mich schon eine ganze Weile nicht wohl. Sein Tod - er kam so plötzlich.«
»Das tut mir wirklich Leid. Kommen Sie. Ich mach Ihnen einen Tee mit einem Schuss Brandy. Das bringt Sie bestimmt wieder auf die Beine. Bleiben Sie ruhig so lange sitzen.«
Er schloss die Ladentür ab und verschwand in einem Hinterzimmer. Als er mit dem Tee kam, brachte er hilfsbereit das örtliche Telefonbuch mit. Aber sie fanden niemanden mit dem Namen Lawton darin.
Charlie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie trank ihren Tee und fühlte sich danach so weit gestärkt, dass sie Henry Leel erklärte, wie sie und Bethany dazu gekommen waren, bei ihrer Suche nach Erics Familie seinen Laden als Ausgangspunkt zu nehmen. Als sie, mit ihrem Bericht zum Ende gekommen, das Hochzeitsbild von Erics Eltern hervorholte, sah Henry sich dieses lang und aufmerksam an, die Stirn dabei so angestrengt gekraust, als wollte er sich ein Wiedererkennen mit Gewalt abpressen. Aber dann schüttelte er doch langsam den Kopf. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, das muss ich sagen. Aber ich kann nicht mit gutem Gewissen behaupten, sie zu kennen. Außerdem verkaufe ich alte Fotos, die nicht viel anders sind als das hier, da sieht nach eine Weilejeder auf einem Foto aus wie jemand, den ich irgendwo mal gesehen hab. Kommen Sie, ich zeig's Ihnen.«