Er ging in eine dunkle Ecke des Ladens und nahm vom Bord eines alten Küchenschranks einen kleinen Kasten, den er zu Charlie und Bethany zurückbrachte. »Ich verkauf nicht allzu viele. Die meisten an Cafes, Theatergruppen und Rahmengeschäfte, die sie für Ausstellungszwecke brauchen. Hier, sehen Sie selbst.« Er ließ den Kasten mit einem Plumps auf den Sekretär fallen.
»Schauen Sie. Ihr Foto ... das passt haarscharf in die letzte Serie da im Kasten. Ein bisschen jünger, vielleicht, aber ich hab auch welche aus der gleichen Zeit. Schaut so aus - lassen Sie mich mal sehen. Genau. Schaut mir nach Fünfzigerjahre aus. Späte Fünfziger. Vielleicht auch frühe Sechziger.«
Gleich bei den ersten Bemerkungen über die Fotografien war Charlie unbehaglich geworden. Aus Furcht, was ihr Gesicht vielleicht verriet, wagte sie nicht, Bethany anzusehen. Gehorsam blätterte sie die alten Aufnahmen durch und konnte nicht umhin, zu bemerken, dass in der Sammlung alle Arten von Fotografien aus den verschiedensten Zeiten vertreten waren. Da gab es Ferrotypien, alte Schwarz-Weiß-Schnappschüsse, Atelieraufnahmen, handkolorierte Porträts. Einige waren auf der Rückseite von Hand beschrieben, mit Hinweisen auf die abgebildeten Personen oder Orte. Charlie wollte nicht daran denken, was das bedeutete.Jessie-Lynn kurz vor Merles Hochzeit.
Henry Leel sagte: »Und wie kommen Sie darauf, dass Sie diese Lawtons hier auftreiben würden? In diesem Laden hier in Temecula?«
»Wir haben ein Rechnungsformular gefunden«, antwortete Bethany. »Charlie, zeig ihm, was in dem Rahmen steckte.«
Charlie reichte Henry Leel den Zettel, und während der alte Mann ihn mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, sagte sie: »Es war wahrscheinlich ein Zufall. Das Bild - das von seinen Eltern - saß vermutlich ein bisschen locker im Rahmen, und er hat den Zettel benutzt, um den Zwischenraum auszustopfen. Ich entdeckte ihn und . Ich wollte so gern seine Eltern finden und habe deshalb voreilige Schlüsse gezogen. Das ist alles.«
Henry Leel rieb sich nachdenklich das Kinn. Er neigte den Kopf zur Seite und tippte mit dem Zeigefinger, der durch irgendeinen Pilzbefall einen schwarzen Nagel hatte, auf das Rechnungsformular. »Die Formulare sind nummeriert«, bemerkte er. »Sehen Sie? Eins-null-fünf- acht in der rechten oberen Ecke. Warten Sie einen Augenblick. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er kramte in den Fächern seines Sekretärs und riss damit Maxie aus dem Schlummer. Sie hob den Kopf und sah ihn schläfrig zwinkernd an, ehe sie sich wieder einrollte. Henry Leel brachte einen abgegriffenen schwarzen Hefter mit weichem Umschlag zum Vorschein und warf ihn auf die Schreibtischplatte. »Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.«
Der Hefter enthielt Kopien von Rechnungen über Artikel, die beiTime on My Side verkauft worden waren. Henry Leel blätterte zurück zu den Kopien vor und nach Nummer 1058. Die Rechnung 1059 war auf eine Barbara Fryer mit einer Adresse in Huntington Beach ausgestellt. »Tja, das ist leider keine Hilfe«, sagte Henry Leel bedauernd, setzte aber mit einem Blick auf die nachfolgende Kopie sogleich hinzu: »Aha! Da haben wir, was wir suchen. Sie sagten doch Lawton, nicht wahr? Hier haben wir einen Lawton, schauen Sie.«
Er drehte das Rechnungsbuch in Charlies Richtung, und diese sah, was sie zu sehen erwartet hatte, sobald sie begonnen hatte, in den alten Fotos zu blättern - ohne allerdings zu wissen oder zu verstehen,warum sie das sehen würde.Eric Lawton stand auf der Rechnungskopie Nummer eins-null-fünf-sieben. Statt einer Adresse war nur eine Telefonnummer angegeben: Erics Durchwahl bei dem Pharmaunternehmen, bei dem er in den sieben Jahren, die Charlie ihn gekannt hatte, Verkaufsdirektor gewesen war.
Unter Erics Namen war eine Liste von Artikeln aufgeführt.Goldenes Medaillon (14 Karat), las Charlie, Porzellandose, 19.Jahrh., Damenring mit Brillanten, japanischer Fächer. Und darunter wiederum stand10 Fotos.
Bethany tippte mit dem Finger darauf und sagte:
»Charles, ist das -«
Charlie ließ sie nicht aussprechen. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an, aber sie bewegte dennoch ihren Arm, drehte das Rechnungsbuch wieder herum und sagte: »Nein. Es ist - ich suche einen Clark oder eine Marilyn Lawton. Das ist jemand anders.«
»Oh!«, meinte Henry Leel. »Tja, dann wird der Mann es wohl nicht gewesen sein. Er war sowieso zu jung. Ich erinnere mich an ihn. Er war so - na, sagen wir, um die Vierzig. Vielleicht auch fünfundvierzig. Ich erinnere mich deshalb, weil er - schauen Sie! - fast siebenhundert Dollar ausgegeben hat. Der Ring und das Medaillon waren die großen Käufe, und man macht nicht jeden Tag so ein Geschäft. Ich weiß noch, dass ich zu ihm sagte: >Da kann sich eine gewisse junge Dame aber freuenc, und er mir zuzwinkerte und sagte: >Jede junge Dame, die's mit mir zu tun hat, kann sich freuen.< Daran erinnere ich mich genau. Ganz schön selbstbewusst, dachte ich. Aber selbstbewusst auf eine nette Art, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Charlie lächelte schwach. Sie stand auf. »Danke«, sagte sie. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Tut mir Leid, dass ich nicht mehr für Sie tun konnte«, erwiderte Henry Leel. »Wollen Sie wirklich jetzt fahren? Sie sind ganz blass um die Nase. Wenn Sie mich fragen, brauchen Sie erst mal einen Brandy.«
»Nein, nein, danke. Ich fühle mich ganz wohl«, beteuerte Charlie. Sie fasste Bethany am Arm und zog sie aus dem Laden hinaus.
Draußen, vor dem Laden, war noch eines der alten Geländer, an denen man früher die Pferde festgebunden hatte. Charlie hielt sich daran fest und sah zur Straße hinaus. Sie dachte an10 Fotos und was das bedeutete: eine falsche Familie, preiswert in Temecula, Kalifornien, gekauft. Aber wasbedeutete das? Und was sagte es ihr über ihren Mann?
Sie zwinkerte, um die Tränen zurückzudrängen. Bethany ##stand an ihrer Seite, und Charlie war der Freundin dankbar für ihr Schweigen. Sie standen stumm nebeneinander, während draußen auf der hellen Straße Autos vorüberfuhren und auf dem Bürgersteig Fußgänger sich an ihnen vorbeidrängten, um in irgendeinen Laden zu eilen.
Als Charlie wieder sprechen konnte, sagte sie:
»Weißt du, was? Ich habe ihm vorgeworfen, er ginge fremd. Nicht an dem Abend. Ungefähr eine Woche vorher.«
Bethany sagte in bedrücktem Ton: »Das Medaillon hat er wohl nicht dir geschenkt? Und den Ring auch nicht?«
»Nein. Genauso wenig wie die Porzellandose.«
»Vielleicht hat er die Sachen Janie geschickt. In dem Bemühen, ein guter Vater zu sein.«
»Zu mir hat er nie was davon gesagt.« So sehr Charlie versuchte, sich zu beherrschen, jetzt begann sie doch zu weinen. »Er war seit ungefähr drei Monaten irgendwie verändert. Anfangs glaubte ich, es hätte mit der Arbeit zu tun - dass vielleicht die Umsätze zurückgegangen wären oder so was. Aber dann kam es ein paar Mal vor, dass er am Telefon war und auflegte, wenn ich ins Zimmer kam. Er kam häufig spät nach Hause. Er hat mich immer angerufen, um mir Bescheid zu geben, aber die Gründe waren - ach, Beth, es war alles so durchsichtig.«
Bethany seufzte. »Charles, ich weiß nicht. Es schaut ziemlich übel aus, das geb ich zu. Aber irgendwie krieg ich das nicht mit Eric zusammen.«