»Kriegst du eine Harley-Davidson mit ihm zusammen? Und ein Tattoo von einer Schlange, die sich seinen Arm hinaufringelt?« Charlie begann, heftiger zu weinen und schluchzend von ihren Ängsten und argwöhnischen Vermutungen zu sprechen sowie von ihren heimlichen Unternehmungen in der letzten Woche vor Erics Tod. Als sie ihn früher beschuldigt hatte, sie zu betrügen, habe er das bestritten, erzählte sie Bethany, und zwar mit so viel ungläubiger Entrüstung, dass Charlie beschlossen hatte, ihm zu glauben. Aber drei Wochen später hatte er ganz beiläufig gesagt, sie solle sich mit der Inneneinrichtung des Hauses Zeit lassen, insbesondere mit ihren Plänen für ein Kinderzimmer, denn »wir wissen ja gar nicht, wie lange wir noch in diesem Haus leben werden«, und das hatte ihren schrecklichen Verdacht wieder aufleben lassen.
Sie hatte sich selbst dafür gehasst, dass sie an Eric zweifelte, aber sie hatte es nicht geschafft, die Zweifel zu besiegen. Sie hatten sie beständig geplagt, so dass sie angefangen hatte, ihn auf entwürdigende Weise zu bespitzeln. Es war ihr peinlich, dies zuzugeben, aber sie war so weit gegangen, sein Badezimmer - man stelle sich das vor! - nach Spuren einer anderen Frau zu durchsuchen, die womöglich in ihrer - Charlies - Abwesenheit mit Eric im Haus gewesen war.
Während sie erzählte, wischte sie sich die Augen und lachte sogar zitternd über ihr Verhalten. Sie habe sich benommen wie die tragische Heldin einer Seifenoper, eine Frau, deren Leben rapide den Bach runtergeht, aber einzig durch eigenes Zutun. Sie hatte die Telefonrechnungen auf der Suche nach unbekannten Nummern überprüft; sie hatte in Erics Adressbuch herumgeschnüffelt, weil sie meinte, sie würde geheimnisvolle Initialen entdecken, die für den Namen einer Geliebten standen; sie hatte seine schmutzige Wäsche nach verräterischen Lippenstiftflecken durchgesehen; sie hatte seine Kommodenschubladen durchwühlt und nach Erinnerungsstücken, Rechnungen, Briefen, abgerissenen Theater- oder Kinokarten gekramt; sie hatte das Schloss seines Aktenkoffers mit einer Haarnadel geöffnet und jedes einzelne Papier darin gelesen, als wären die Berichte der Firma Biosyn verschlüsselt geschriebene Liebesbriefe oder Tagebücher.
Das alles hatte sie ihm schließlich beichten müssen, als sie sich dazu hinreißen ließ, eine Flasche Hustensaft zu öffnen, die sie in seinem Badezimmer fand. Dabei wusste sie nicht einmal, warum sie sie öffnete - was sie darin zu entdecken erwartete! Einen Flaschengeist, vielleicht, der ihr die Wahrheit sagen würde? Kurz und gut, die Flasche war ihr aus der Hand gerutscht und auf den Steinboden geknallt, wo das ganz Zeug ausgelaufen war. Das hatte sie endlich zur Besinnung gebracht - nach diesem wachsenden Gefühl der Frustration darüber, nichts beweisen zu können, diesem innerlichen Aha!, als sie die Flasche sah, packte und mit zitternden Händen aufschraubte, nach dem Schrecken, als sie ihren Fingern entglitt und zersprang und der Hustensaft sich in einer bernsteinbraunen Pfütze auf den Boden ergoss. Als das geschah, war ihr schlagartig klar geworden, wie sinnlos ihre Spitzelei war und was für eine hässliche Person sie aus ihr machte. Darum hatte sie schließlich ihrem Mann gebeichtet. Es schien ihr die einzige Möglichkeit, das, was sie quälte, hinter sich zu lassen.
»Er hat mich angehört und war völlig außer sich. Und nachdem wir miteinander geredet hatte, zog er sich in sich selbst zurück. Ich dachte, er wollte mich damit bestrafen, und fand, ich hätte es verdient. Was ich getan hatte, war gemein gewesen. Aber ich sagte mir, er würde mit der Zeit schon darüber hinwegkommen, wir würden es beide vergessen, und die Geschichte würde ein Ende haben. Aber eine Woche später war er tot. Und jetzt .« Charlie sah zur Ladentür hinüber.
»Jetzt wissen wir es, nicht wahr? Wir wissen, was. Wir wissen nur nicht, wer. Komm, Beth, fahren wir nach Hause.«
Bethany Franklin war nicht bereit, gleich das Schlimm- ste von Eric Lawton zu glauben. Sie machte Charlie darauf aufmerksam, dass alle ihre Nachforschungen nichts erbracht hatten. Es könne genauso gut sein, dass Eric einfach Weihnachtsgeschenke für sie gehortet hatte. Oder Geburtstagsgeschenke. Oder Valentinsgeschenke. Es gibt Menschen, die kaufen sofort, wenn sie etwas sehen, was ihnen gefällt, erklärte Bethany, und heben die Sachen dann für den geeigneten Anlass auf.
Aber für die Fotos sei das keine Erklärung, entgegnete Charlie. Er hatte sich seine Familie imTime on My Side gekauft. Und was hatte das zu bedeuten?
Dass er irgendwo eine andere Familie hatte. Neben Paula und deren Tochter, und neben ihr selbst.
In den folgenden zwei Tagen kämpfte Charlie gegen die wieder aufflammende Grippe und nutzte die Stunden im Bett, um sich zu überlegen, wer aus Erics kleinem Freundeskreis in der Lage und bereit wäre, ihr die Wahrheit über das geheime Leben ihres Mannes zu sagen. Sie entschied sich schließlich für Terry Stewart, Erics Anwalt, Tennispartner und alter Kindergartenfreund. Wenn Eric Lawton ein verborgenes Leben geführt hatte, dann musste Terry Stewart es wissen.
Aber noch ehe sie ihn anrufen konnte, um sich mit ihm zu verabreden, erhielt sie einen ersten Hinweis darauf, welcher Art das zweite Leben ihres Manns möglicherweise gewesen sein könnte. Eine seiner Mitarbeiterinnen kam zu Besuch, eine Frau, die Charlie nie kennen gelernt, von der sie nie gehört hatte. Sie hieß Sharon Pasternak (»Nicht verwandt und nicht verschwägert«, erklärte sie lächelnd, nachdem sie sich an der Haustür vorgestellt hatte.) und entschuldigte sich dafür, dass sie unangemeldet vorbeigekommen war. Sie wolle fragen, sagte sie, ob sie kurz Erics Arbeitsunterlagen durchsehen dürfe. Sie hatte mit ihm zusammen an einem Bericht für den Aufsichtsrat gearbeitet, und Eric hatte den größten Teil des Materials mit nach Hause genommen, um es zu ordnen und zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen.
»Mir ist klar, dass es sehr früh ist - äh -, Sie wissen, was ich meine. Und ich würde ja auch warten, wenn das möglich wäre«, sagte Sharon Pasternak, als Charlie sie ins Haus bat. »Aber die Aufsichtsratssitzung ist nächsten Monat, und da ich den Bericht jetzt allein zusammenstellen muss ... Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie belästigen muss ... Aber ich kann die Sache nicht länger liegen lassen.«
Sie wirkte ernsthaft, schien es zu bedauern, auch nur Erics Namen aussprechen zu müssen, schien seiner Witwe unter keinen Umständen zusätzlichen Schmerz bereiten zu wollen. Alles, was sie tat und sagte, war völlig in Ordnung. Andererseits aber stellte sie sich als Molekularbiologin vor, was Charlie veranlasste, sich zu fragen, wieso eine Wissenschaftlerin des Unternehmens und der Verkaufsdirektor gemeinsam einen Bericht verfassen sollten.
Misstrauisch, alle Sinne hellwach, führte Charlie Sharon Pasternak in Erics Arbeitszimmer, wo auf dem Schreibtisch sein Aktenkoffer lag. Sharon warf ihr einen lächelnden Blick zu. »Darf ich ... ist es Ihnen recht, wenn ich mich hier setze?« Sie legte eine Hand auf Erics Drehsessel. »Es dauert vielleicht ein Weilchen.« Sie machte eine ausholende Geste: »Er hat so viele Akten.«
»Aber natürlich«, antwortete Charlie, so freundlich sie konnte. »Lassen Sie sich Zeit. Irgendwann muss ich diese Sachen alle einmal durchsehen, aber nehmen Sie ruhig mit, was Ihre gemeinsame« - sie ließ absichtlich einen Moment verstreichen, ehe Sie fortfuhr - »Arbeit betrifft.«
Sharon Pasternak wurde rot und senkte den Blick. Sie sagte: »Vielen Dank«, und hob den Kopf, als sie hinzufügte: »Es tut mir so Leid, Mrs. Lawton. Er war ein feiner Mensch. Er war so ein feiner Mensch.« Sie fixierte Charlie mit viel sagendem Blick, hielt sie viel zu lange in diesem Blick fest.
So ist das also, dachte Charlie. So war das also, wenn man plötzlich dem Objekt der heimlichen Begierde seines Ehemanns gegenüberstand. Nur eines wunderte sie - Sharon Pasternak war überhaupt nicht Erics Typ: mollig, praktisch geschnittenes, dunkles Haar, kaum Make-up, zu dicke Fesseln. Nein, sie war nicht sein Typ. Dennoch musste die Frage gestellt werden: Waswar denn Eric Lawtons Typ gewesen? Wer war sein Typ gewesen? Wusste seine Frau das überhaupt?