Charlie ging in ihr Schlafzimmer und zog die Vorhänge zu. In der Dunkelheit liegend, lauschte sie auf die Geräusche aus dem Arbeitszimmer, wo Erics Mitarbeiterin kramte, wo sie kramen zu müssen glaubte. Charlie hatte bei ihrer rasenden Suche nach einem Beweis für die Untreue ihres Mannes selbst schon in diesem Zimmer das Unterste zuoberst gekehrt. Wenn Sharon tatsächlich die heimliche Geliebte war, hätte Charlie ihr gern gesagt, dass ihr Geheimnis sicher war oder zumindest sicher gewesen war, bis sie vor Eric Lawtons Haustür aufgekreuzt war. Dumme Idee, Miss Pasternak.
»Wie Boris?«, fragte später Bethany. »Ich meine, das ist ja nicht gerade ein Allerweltsname. Hast du dir einen Ausweis zeigen lassen? Vielleicht hat sie dich angelogen.«
»Warum? Wenn sie wirklich Erics Geliebte war, was spielt es dann für eine Rolle, ob ich ihren Namen weiß oder nicht?«
»Vielleicht ist sie gar nicht Erics Geliebte, Charles. Vielleicht ist sie jemand ganz anderes.«
Charlie ließ sich dies Argument mit allem, was es implizierte, durch den Kopf gehen. »Ich muss mit Terry Stewart sprechen«, entschied sie. »Terry weiß bestimmt, mit wem Eric zusammen war.«
»Wenn er mit jemandem zusammen war! Aber warum musstdu das überhaupt wissen?«
»Weil ich ...« Charlie holte tief Luft. »Ich brauche Absolution, und die bekomme ich durch die Wahrheit.«
»Absolution wovon?«
»Davon, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll.«
»Das ist doch keine Sünde!«
»Für mich schon.«
Charlie wusste, dass sie Erics besten Freund, Terry Stewart, von dem ihr Mann so oft behauptet hatte: »Er ist mein bester Freund auf der ganzen Welt - er hat mich nie im Stich gelassen und würde es auch niemals tun«, überraschen musste und ihm keine Zeit lassen durfte, sich eine Deckgeschichte für das auszudenken, was er möglicherweise über Eric verheimlichen wollte. Da er Anwalt war - Erics Anwalt noch dazu -, war mit seiner Entschlossenheit zu rechnen, die Geheimnisse seiner Mandanten wenn nötig mit ins Grab zu nehmen. Sie wollte ihm daher auf keinen Fall einen offiziellen Besuch abstatten, und das hieß, dass sie versuchen musste, ihn an einem Ort, der nichts mit der Kanzlei zu tun hatte, abzupassen.
Der Fitnessclub erwies sich als der geeignete Ort. Auf dem Weg zu den Tennisplätzen, wo sie ihn vermutete, sah sie seinen Wagen mit der ihr bekannten Nummer auf dem Parkplatz stehen und hielt an. Nachdem sie ihn, durch die großen Glasfenster des Gebäudes, auf dem Laufband erkannt hatte, beschloss sie, zu warten, bis er herauskam. Gleich nebenan war ein Starbucks, und sie ging hinein.
Sie saß am Fenster und trank einen Milchkaffee, als die Tür des Fitnessclubs aufgestoßen wurde und Terry auf die Straße trat. Er lief auf seinen Wagen zu und zog im Gehen seinen Schlips gerade. Er sah aus wie frisch geschrubbt - nasses Haar und rot glänzendes Gesicht. Sie klopfte ans Fenster, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er wandte den Kopf in ihre Richtung, erkannte sie, blieb stehen, lächelte. Dann kam er näher und trat wenig später zu ihr an den Tisch.
»Wie geht es dir, Charlie?« Seine Miene war ernst und teilnahmsvoll.
Charlie zuckte die Schultern. »Ganz okay. Es ist mir schon besser gegangen, aber ich werde es überleben.«
»Es tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe. Ich bin wahrscheinlich ein elender Feigling. Wenn ich darüber spreche, fängt sie bestimmt an zu weinen, habe ich mir gesagt. Und ich kann nicht darum herum reden, das wäre Heuchelei. Aber ich möchte sie nicht zum Weinen bringen. Sie hat genug geweint. Vielleicht geht es ihr schon wieder besser, und dann würde ich alles nur von neuem aufwühlen.« Er zog einen Stuhl heraus und setzte sich. »Es tut mir wirklich Leid.«
»Er hatte eine Geliebte, richtig?«
Terry fuhr zurück, sichtlich erschrocken über diesen Frontalangriff. »Eric?«
»Zuerst dachte ich, ja. Dann dachte ich, nein. Das heißt, eigentlich hat er mich davon überzeugt. Aber jetzt . Er hatte eine Geliebte, nicht wahr?«
»Aber nein! Guter Gott, wie kommst du denn darauf?«
»Er hat sich so verändert, Terry. Die Harley, zum Beispiel, und das Tattoo.«
»Mensch, Charlie, in diesem Viertel hier wimmelt's von Typen um die Vierzig, deren Wochenendvergnügen darin besteht, auf ihren Harleys durch die Gegend zu donnern. Sie haben Frauen, Kinder, Katzen, Hunde, müssen ihr Auto und ihr Haus abbezahlen und fragen sich eines Morgens beim Aufwachen: Ist das wirklich alles? Es reicht ihnen nicht mehr. Midlife-Krise nennt man das. Sie wollen die Spannung wiederhaben. Und holen sie sich mit einem schnellen Motorrad. Das ist alles.«
»Aber er hat heimlich telefoniert, kam häufig spät nach Hause, angeblich, weil er länger gearbeitet hatte. Und dann war eine Frau bei mir und wollte seine Sachen durchsehen. Eine gewisse Sharon Pasternak, Molekularbiologin bei Biosyn. Sie sagte, sie hätten zusammen an einem Bericht gearbeitet - sie und Eric. Kannst du mir sagen, wieso Eric mit einer Biologin zusammen einen Bericht geschrieben haben soll, Terry? Und er hätte Unterlagen mit nach Hause genommen, die sie brauchte, um den Bericht jetzt allein zusammenzustellen. Aber als sie ging, nahm sie kein Stück mit. Was soll ich daraus schließen?«
»Keine Ahnung.«
»Ich denke, es liegt auf der Hand. Sie hat nach Spuren gesucht.«
»Spuren wovon?«
»Du weißt, was ich meine. Er hatte eine Geliebte. Vielleicht war sie es.«
»Das ist ausgeschlossen.«
»Warum? Warum ist das ausgeschlossen?«
»Weil - Herrgott noch mal, Charlie, er war verrückt nach dir. Schon vom ersten Tag an.«
»Dann hat sie etwas anderes gesucht. Aber was?«
»Charlie, Mensch! Jetzt beruhig dich mal, okay? Du schaust aus wie Braunbier mit Spucke, entschuldige den harten Ausdruck. Schläfst du genug? Isst du richtig? Hast du mal daran gedacht, für ein paar Tage wegzufahren?«
»Er hat mir über seine Familie nur Lügen aufgetischt. Er hatte Fotos und hat vorgetäuscht . Du hast sie doch auch gesehen, Terry. Du warst bei uns zu Hause. Du hast die Fotos gesehen, und du hast seine Familie gekannt. Du bist mit ihm zusammen aufgewachsen. Du musst also gewusst haben .« Charlotte umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, als ihr Magen sich plötzlich schmerzhaft zusammenkrampfte. In ihren Därmen rumorte es. Ihre Hände waren feucht. Sie war drauf und dran, zusammenzuklappen, und war wütend darüber, darum hob sie die Stimme und rief laut: »Ich will das wissen. Ich habe ein Recht darauf. Du musst mir sagen, was du weißt.«
Terry sah vor allem verwirrt aus. »Von was für Fotos sprichst du?«, fragte er.
Charlie erklärte es ihm. Er hörte ihr aufmerksam zu, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ja, natürlich habe ich Erics Familie gekannt. Aber nur seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder. Brent. Und selbst wenn ich mir die Fotos genauer angesehen hätte - was ich nicht getan habe, ich meine, wer sieht sich schon die Familienfotos in anderer Leute Häuser näher an, man wirft doch höchstens im Vorbeigehen einen Blick auf sie und basta -, also, selbst wenn ich sie mir genauer angesehen hätte, hätte ich niemanden erkannt. Erics Mutter ist gestorben, als wir beide ungefähr acht waren, und vorher war sie fünf Jahre bettlägerig. Nach einem Schlaganfall. Ich habe sie in der Zeit vielleicht einmal gesehen! Wie hätte ich sie da auf einem Foto ... Nie im Leben. Ich kannte sie ja überhaupt nicht. Und Brent und Erics Vater habe ich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht ist es auch schon länger her. Die hätte ich auf einem Foto auch nicht erkannt.«
Charlie hatte auf einmal ein Dröhnen in den Ohren.
»Brent?«, sagte sie leise. »Der ist doch ums Leben gekommen. Bei dem Unglücksfall. Und danach haben Erics Eltern -«
»Bei was für einem Unglücksfall?«, fragte Terry.