»Komm, Simba«, rief Doyle, und der Hund sprang ins Haus. Sein Herr befahl ihm, die Spur eventueller Eindringlinge aufzunehmen, und während das Tier, gefolgt von Doyle, suchend von Raum zu Raum trottete, nahm Charlie das Werk der Zerstörung in Augenschein.
Es war offenkundig, dass nicht einfach Raub die Absicht gewesen war, sondern dass jemand nach etwas Bestimmtem gesucht hatte. An der Art und Weise, wie ihre Sache umhergeworfen waren, ließ sich ablesen, dass hier jemand schnell und gezielt gearbeitet und einzelne Gegenstände einfach zur Seite geworfen hatte, um sie aus dem Weg zu räumen, als er nicht fand, was er suchte. Die Vorgehensweise schien in allen Räumen die gleiche: Alle Möbel waren von der Wand abgerückt; Kommoden und Schränke waren geleert und ihr Inhalt auf den Boden geworfen worden; Bilder waren abgenommen, Bücher durchgeblättert und zu Boden geschleudert worden.
»Niemand hier«, verkündete Doyle. »Der Kerl hat Gas gegeben. Leider hängen hier zu viele Gerüche herum, der Hund kann nichts Brauchbares aufnehmen. Haben Sie kürzlich eine Party gegeben?«
Eine Party. »Ich hatte Gäste, ja. Nach einer Beerdigung. Mein Mann . « Charlie wurden die Knie weich, und sie ließ sich in einen Sessel sinken.
»Mann, das tut mir echt Leid«, sagte Doyle. »Schlimm, so was. Können Sie mir sagen, ob irgendwas fehlt?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Es scheint so - ach, ich weiß nicht.« Charlie fühlte sich so erschöpft, dass sie nur noch ins Bett kriechen und ein ganzes Jahr lang schlafen wollte. Den Albtraum wegschlafen, dachte sie.
Doyle sagte, er werde jetzt die Kollegen von der Spurensicherung mobil machen. Die würden hier alles auf Fingerabdrücke prüfen und so weiter. Charlie solle inzwischen vielleicht ihre Versicherung anrufen. Und ob sie jemanden hätte, der ihr beim Aufräumen helfen könnte, wenn die Spurensicherung hier fertig war?
Ja, antwortete Charlie brav. Sie habe eine Freundin, die ihr helfen würde.
»Soll ich sie für Sie anrufen?«
Nein, nein, wehrte Charlie ab. Sie würde später selbst anrufen. Im Moment könne man ja sowieso noch nichts tun.
Doyle meinte, das sei vernünftig, und sagte, er würde mit dem Hund draußen warten, bis die Kollegen kämen. Sie trafen eine Stunde später ein, in einem weißen PKW, auf dessen Türen in dezentem GrauKriminalpolizei stand.
Während sie im Chaos, das der Eindringling angerichtet hatte, pflichtschuldig nach Spuren suchten, saß Charlie hinten im Garten und starrte den dekorativen kleinen Springbrunnen an, den sie und ihr Mann vor zwei Jahren zu entfernen beschlossen hatten, »sobald Kinder kommen«. Das alles schien jetzt Teil eines anderen Lebens zu sein; eines Lebens, das mit ihrem gegenwärtigen keine Ähnlichkeit hatte und nichts als Lüge gewesen war.
»Wow, der Typ ist zu toll, um wahr zu sein«, hatte ihre Schwester Emily gesagt, als sie Eric kennen gelernt hatte.
Und sie hatte offenbar Recht gehabt.
Als die Beamten von der Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig waren, hinterließen sie Charlie Namen und Telefonnummer einer Frau, die darauf spezialisiert war, wie sie erklärten, »in solchen Fällen die Ordnung wieder herzustellen. Sie brauchen Sie nur anzurufen«, sagten sie. »Sie ist gut und preiswert.«
Charlie wusste nicht, ob sie die Frau oder ihre Arbeit meinten. Aber es spielte sowieso keine Rolle. Sie wollte keine Fremden in den Trümmern ihres Lebens herumkramen lassen.
Sie machte sich allein an die Arbeit und begann dort, wo, wie sie wusste, ohne es sich eingestehen zu wollen, auch der Eindringling begonnen hatte: in Erics Arbeitszimmer.
Das habe ich Sharon Pasternak zu verdanken, dachte Charlie. Sie blieb an der offenen Tür stehen und ließ sich gegen den Rahmen sinken. Man müsste schon total vernagelt sein, um diesen Einbruch nicht mit Sharon Pasternaks Besuch und den Unterlagen, die sie gesucht hatte, in Verbindung zu bringen. Als sie nicht gefunden hatte, was sie suchte, hatte sie kurzerhand jemanden angeheuert, der fähig war, beim Suchen etwas mehr Fantasie zu entwickeln. Das Ergebnis hatte Charlie nun vor sich.
Sie stieg über einen Stapel Aktenordner und trat an Erics Schreibtisch. Mit dem Einfachsten fing sie an: Sie setzte die Schubladen wieder ein und ordnete ihren Inhalt. Und bei dieser Tätigkeit entdeckte sie einen Hinweis darauf, wo - wenn auch nicht welcher Art - die Unterlagen waren, die Sharon Pasternak und der Einbrecher so dringend haben wollten. Neben Erics Schreibtisch auf dem Boden lag, als hätte man es aus einer der unteren Schubladen gekippt, ein dünnes Bündel Papiere, das nicht hierher gehörte: der Kaufvertrag für das Haus, die KFZ- Briefe für die Autos, Versicherungsunterlagen, Geburtsurkunden, Reisepässe. Das alles lag normalerweise in ihrem Bankschließfach. Die Tatsache, dass es nun hier im Haus war, veranlasste Charlie zu der Frage, ob jetzt an Stelle dieser Dokumente etwas anderes im Tresor lag, und wenn ja, was.
Sie suchte die Bank erst am folgenden Tag auf. Nachdem sie den ganzen Morgen im Bett gelegen und gegen lähmende Lethargie gekämpft hatte, tappte sie kurz nach Mittag ins Badezimmer, schaufelte sich einen Weg durch das Chaos und ließ die Wanne einlaufen. Sie streckte sich im Wasser aus und blieb träge darin liegen, bis es kühl wurde. Erst dann ließ sie Wasser nachlaufen und begann müde, sich zu waschen. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie schon einmal so eine Zeit erlebt hatte, wo alles - selbst die kleinste Bewegung - solche Anstrengung gekostet hatte. Es gelang ihr nicht. Es war zwei Uhr, als sie schließlich, den Schlüssel zu ihrem Schließfach in der Hand, in den Schalterraum der Bank trat. Sie tippte auf die Glocke, um den Service anzufordern, und sofort kam eine Angestellte, ein junges Mädchen, bestimmt nicht älter als Anfang Zwanzig, mit rabenschwarzem Haar und rabenschwarz umrandeten Augen. Dem Namensschildchen an ihrer Bluse zufolge hieß sie Linda.
Charlie füllte die Karte aus. Linda las ihren Namen und die Nummer ihres Schließfachs und hob dann den Kopf, um Charlie anzusehen. »Oh!«, sagte sie. »Sie sind - ich meine, Sie waren noch nie -« Sie brach ab, als wäre ihr eben eingefallen, dass ihr Verhalten nicht angebracht war. »Bitte, kommen Sie mit, Mrs. Lawton«, sagte sie nur.
Das Schließfach war eines von den großen in der untersten Reihe. Charlie steckte ihren Schlüssel in das rechte Schloss, während Linda den ihren in das linke schob. Eine kurze Drehung der Hand, und der Kasten glitt aus seinem Fach. Linda hob ihn in die Höhe und stellte ihn auf den Tisch »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mrs. Lawton?«, fragte sie und sah Charlie dabei so gespannt an, dass diese sich fragte, ob das Mädchen vielleicht Teil von Erics geheimem Leben war.
»Warum fragen Sie?«
»Bitte?«
»Warum fragen Sie, ob Sie sonst noch etwas für mich tun können?«
Linda wich zurück, als hielte sie Charlie für verrückt.
»Das fragen wir immer. Das müssen wir fragen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Oder Tee?«
Charlies ängstliche Nervosität löste sich auf. »Nein, danke«, antwortete sie. »Verzeihen Sie, es tut mir Leid. Mir geht es in letzter Zeit nicht besonders gut. Ich wollte Sie nicht ...«
»Dann lasse ich Sie jetzt allein«, sagte Linda und schien froh, gehen zu können.
Allein im Tresorraum, holte Charlie erst einmal tief Luft. Der Raum war stickig und überheizt, und es war beklemmend still. Sie fühlte sich beobachtet und suchte nach Kameras. Aber es waren keine da. Sie war absolut ungestört.
Es war Zeit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, was Sharon Pasternak in Erics Arbeitszimmer gesucht hatte. Es war Zeit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, warum ein Fremder ins Haus eingebrochen war und alles auseinander genommen hatte, was nicht niet- und nagelfest war.
Vorsichtig öffnete sie den Deckel des Kastens. Ihr stockte der Atem, als sie den Inhalt sah: Säuberlich aufgereiht und um die Mitte mit Gummibändern zusammengehalten, sandten dicke Bündel von HundertDollar-Scheinen einen Geruch von Alter, Abgenutztheit und Unredlichkeit in die Luft.