»Mein Gott«, flüsterte Charlie und stieß krachend den Deckel des Kastens zu. Keuchend wie eine Sprinterin, stützte sie sich vorgebeugt auf den Tisch und versuchte, sich zu erklären, was sie soeben gesehen hatte. Die Bündel sahen aus wie fünfzig Scheine dick. Und wie viele Bündel waren in dem Kasten gewesen? Fünfzig, siebzig, hundert? Das bedeutete ... Was? Es war mehr Geld, als sie außer im Kino je zu Gesicht bekommen hatte. Wer, um Gottes willen, war ihr Mann gewesen? Was hatte er getan?
Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm Charlie eine schattenhafte Bewegung wahr und drehte den Kopf. In dem Spalt zwischen der Wand des Tresorraums und der Tür stand das Mädchen Linda und beobachtete sie. Als sie Charlies Blick auffing, trat sie hastig zurück - augenblicklich wieder die dienstliche Korrektheit in Person.
Charlie eilte aus dem Tresorraum und rief nach dem Mädchen. Linda drehte sich um, bemüht, distanzierte Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Aber das gelang ihr nicht, sie hatte einen Blick in den Augen wie ein Reh, das ins blendende Licht von Autoscheinwerfern geraten war.
»Ja, Mrs. Lawton?«, sagte sie leise. »Ist noch etwas?«
Mit einer Handbewegung bedeutete Charlie dem Mädchen, dass sie seine Begleitung in den Tresorraum wünschte. Linda sah sich Hilfe suchend um, aber es war niemand da, der sie hätte retten können. An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß ein Paar im Gespräch mit einem der Angestellten. Die Kassierer hatten an ihren Schaltern zu tun. Die Tür zum Büro des Filialleiters war geschlossen. Es herrschte die typische mittägliche Stille, die dem Ansturm kurz vor Geschäftsschluss am Nachmittag voranzugehen pflegte.
»Ich muss . « Linda drehte einen Ring an ihrer Hand. Es war ein Brillantring. Verlobung oder etwas anderes?, fragte sich Charlie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie den Auftrag haben, die Kunden im Tresorraum zu bespitzeln«, sagte Charlie. »Ich möchte mich nicht gern beim Filialleiter über sie beschweren müssen. Kommen Sie also mit mir rein, oder soll ich bei ihm anklopfen?«
Linda schluckte. Sie schob sich eine Strähne schwarzen Haars hinters Ohr. Dann folgte sie Charlie.
Der Kasten stand noch auf dem Tisch, wo Charlie ihn zurückgelassen hatte. Wie unter Zwang richtete Linda ihren Blick darauf. Sie schob ihre Hände zusammen und wartete darauf, was Charlie sagen würde.
»Sie haben meinen Mann gekannt. Sein Name war Ihnen bekannt. Sie haben praktisch gesagt, dass er häufig hier war.«
»Ich wollte bei Ihnen nicht den Eindruck erwecken -«
»Sagen Sie mir, was Sie hierüber wissen.« Charlie öffnete den Tresorkasten. »Denn Sie wussten, dass das Geld hier war. Sie haben mich beobachtet. Sie wollten sehen, wie ich reagieren würde.«
Linda sagte hastig: »Ich hätte Sie nicht beobachten sollen. Es tut mir Leid. Ich kann es mir nicht leisten, meine Arbeit zu verlieren. Ich muss für meine kleine Tochter sorgen.«
Erics Kind? Charlie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
»Sie ist erst anderthalb Jahre alt«, fuhr Linda fort.
»Ihr Vater zahlt uns keinen Penny, undmein Vater weigert sich, uns bei sich aufzunehmen. Ich arbeite seit einem Jahr hier, und es läuft ziemlich gut. Aber wenn ich jetzt gefeuert werde .«
»Wie lange haben Sie und mein Mann ...? Wie haben Sie einander kennen gelernt?«
»Kennen gelernt?« Linda riss entsetzt die Augen auf, als sie begriff. »Er istnett, weiter nichts. Er - na ja, er flirtet ganz gern, aber das ist auch alles. Ich wusste nicht, dass er verheiratet ist, bis ich mal auf der Karte Ihren Namen gesehen habe. Und - ehrlich, da ist nichts. Er ist einfach ein guter Typ, er kommt ziemlich häufig, und er hat mich ein bisschen neugierig gemacht. Mehr ist nicht.«
»Sie haben ihn im Tresorraum beobachtet.«
»Nur ein Mal. Ich schwör's. Nur ein einziges Mal. Die anderen Male . Also, anfangs hat er, wenn er kam, um seine Einzahlungen zu machen - auf das Scheckkonto, meine ich -, immer auf mich gewartet. Er ließ andere vor und hat gewartet, bis ich frei war. Einmal ist ihm das Foto von Brittany aufgefallen - das ist meine kleine Tochter, es steht an meinem Schalterfenster, sehen Sie, gleich da drüben -, und er hat mich nach ihr gefragt. So sind wir ins Gespräch gekommen. Er sagte, er hätte auch eine kleine Tochter, aber sie wäre schon älter, und er hätte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Er sagte, dass sie ihm fehlt, und das war alles, worüber wir uns unterhalten haben. Ich weiß, dass er geschieden ist, weil er ein paar Mal von seiner >Exfrau< gesprochen hat, und ich dachte zuerst ... Na ja, er hat mir irgendwie das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein, und ich dachte mir, hey, wäre das nicht klasse, wenn ich hier in der Bank jemanden kennen lernen würde? Ich bediene ihn immer, wenn er kommt, und bin einfach nett und freundlich. Und ich habe nicht den Eindruck, dass er was dagegen hat.«
»Er ist tot.«
»Tot? Oh, mein Gott! Das tut mir Leid. Ich hatte ja keine Ahnung.« Sie wies mit einer Handbewegung zu dem Metallkasten. »Mich hat das hier interessiert, sonst nichts. Ehrlich. Mehr war's nicht.«
»Wie lang liegt es schon hier?«, fragte Charlie. »Das Geld, meine ich.«
»Ich weiß wirklich nicht - zwei Wochen vielleicht? Oder drei?«, sagte Linda. »Er kam irgendwann mal außer der Reihe, nicht an dem Tag, an dem er gewöhnlich seinen Gehaltsscheck einzahlte.«
»Und was war los? Warum haben Sie ihn beobachtet?«
»Weil er - er hat richtig gestrahlt an dem Tag. Er war high!«
»Auf Drogen?«
»Nein, nein. Er war einfach glücklich und vergnügt. Er hatte seinen Aktenkoffer mit und hat geklingelt, genau wie Sie vorhin, und ich bin hinübergegangen, und er hat die Karte unterzeichnet. Dann hat er gesagt: >Ich bin froh, dass Sie mich bedienen, Linda. Andiesem Tag würde ich niemand anderem vertrauen.««
>»An diesem Tag<?«
»Ja, ich wusste auch nicht, was er meinte, deshalb habe ich ihn beobachtet. Er legte den Aktenkoffer auf den Tisch, machte das Schließfach auf und holte einen Packen Papiere raus. Die steckte er in seinen Aktenkoffer, und das, was im Koffer war, legte er in den Kasten. Es war das Geld. Ich hab's gesehen. Ich dachte, er wäre ... Na ja, es sah aus, als hätte er Drogen verkauft oder so was, ich meine, warum würde er sonst so viel Bares mit sich rumschleppen. Ich konnte es nicht fassen, er hatte immer so anständig gewirkt. Das ist alles, was ich gesehen habe. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, als er ging, und ich habe ihn nie wieder gesehen.«
Eric als Drogenhändler. Charlie griff den Gedanken auf. Drogen! Genau, das war die Lösung. Aber nicht die Drogen, an die Linda dachte. Das Mädchen stellte sich vor, Eric hätte mit Kokain gedealt, wie man es im Fernsehen oder Kino sah, oder vor dem Spirituosengeschäft um die Ecke Schulkindern Marihuana angedreht oder Yuppies mit Heroin, Ecstasy oder sonstigen Designerdrogen versorgt. Aber sie stellte sich bestimmt nicht vor, dass er bei Biosyn gestohlen hatte - ein wirksames Mittel zur Immunsuppression, eine schlagkräftige Form der Chemotherapie ohne Nebenwirkungen, einen neuen Impfstoff gegen AIDS, Viagra für Frauen ... Was war es, Eric? - und die Ware auf dem internationalen Schwarzen Markt an den Meistbietenden verkauft hatte, der sich seinerseits mit der Vermarktung eine goldene Nase verdienen würde.
Terry Stewarts Worte fielen Charlie wieder ein, als sie in dem stickigen Tresorraum stand und auf den geschlossenen Metallkasten hinunterblickte: »Rosinen im Kopf, Charlie, das war das Einzige, was er hatte.« Aber bei Eric war es nicht bei den Rosinen im Kopf geblieben. Er hatte Ernst gemacht. Er war zweiundvierzig Jahre alt gewesen und hatte den größten Teil seines Lebens hinter sich. Er hatte seine Chance gesehen und sie ergriffen. Nurein Geschäft und dann einen Riesenhaufen Geld. So vieles ergab plötzlich einen Sinn. Dinge, die er gesagt hatte. Dinge, die er getan hatte. Das, was aus ihm geworden war.