»Sie haben recht.« Miranda senkte den Blick. »Es ist furchtbar.«
»Furchtbar.« flüsterte Mrs. Murphy, »und dies ist erst der Anfang.«
25
Harry mochte den Krankenhausgeruch nicht, er erinnerte sie an die letzten Tage ihrer Mutter. Wenn möglich, drückte sie sich vor Krankenhausbesuchen, doch immer wieder siegte das Pflichtgefühl über ihre Abneigung, und sie wagte sich in die unpersönlichen Korridore.
Man behielt Kerry für vierundzwanzig Stunden da, um sicherzugehen, daß der Angriff keine weiteren Folgen nach sich zog. Die Ärzte nahmen Schläge auf den Kopf immer ernst. Cynthia Cooper saß an Kerrys Bett, als Harry ins Zimmer trat.
»Wie geht's dir?«
»Ganz gut - den Umständen entsprechend.«
»Hi, Coop.«
»Hi.« Coop rückte auf ihrem Stuhl herum. »Diese Nacht war die Hölle.«
Kerry fummelte an dem Erkennungsbändchen an ihrem Arm. »Cynthia ist mit Rick und Herbie bei Laura Freely gewesen. Laura ist zusammengebrochen, als sie es ihr gesagt haben.«
»Wer ist bei ihr, bis Dudley und Thea nach Hause fliegen können?« Dudley und Thea waren die erwachsenen Kinder der Freelys.
»Miranda ist über Nacht dort geblieben. Im Moment ist Mim bei Laura. Die Frauen wollen sich auch abwechseln, wenn die Kinder eingetroffen sind. Es gibt so viel zu tun, und Laura steht unter Beruhigungsmitteln. Sie kann jetzt keine der anstehenden Entscheidungen treffen. Ich glaube, Ellie Wood Baxter, Port und sogar Boom Boom wollen einen Plan ausarbeiten.« Cynthia streckte die Beine aus.
»Kerry, ich bin gekommen, um zu sehen, ob du was von zu Hause brauchst, wo dein Dad doch krank ist. Ich hol dir gerne ein paar Sachen.«
»Danke, Harry, aber ich hab alles.«
»Cynthia.?« Harry zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Ich bin hier, damit sie nicht türmt. Die .357er in ihrer Hand war die Waffe, mit der Hogan getötet wurde. Und sie ist auf Kerry McCray registriert.« »Ich besitze keine Waffe.« Kerry war den Tränen nahe.
»Den Unterlagen zufolge haben Sie am zehnten Juli bei Hassett in Waynesboro eine gekauft.«
Harry bemühte sich um einen leichten Tonfalclass="underline" »Wollen Sie meine Freundin etwa verhaften?«
»Nein, noch nicht.«
»Cynthia, Sie können unmöglich glauben, daß Kerry einen Menschen töten würde.«
»Ich bin Polizeibeamtin. Gefühle kann ich mir nicht leisten.«
»So 'n Scheiß«, entgegnete Harry prompt.
»Danke, Harry. Wir sind keine besonders guten Freundinnen, aber du stehst zu mir - danke.« Kerry ließ sich aufs Kissen zurückfallen, dann zuckte sie zusammen, weil sie das Pochen in ihrem Kopf spürte. »Ich habe nie eine Waffe gekauft. Ich bin nie bei Hassett gewesen. Am zehnten Juli war ich wie gewöhnlich den ganzen Tag in der Bank und hab neue Konten bearbeitet.«
Cynthia sagte bestimmt: »Den Unterlagen zufolge haben Sie sich mit Ihrem Führerschein ausgewiesen.«
»Ich habe nie einen Fuß in dieses Waffengeschäft gesetzt.«
»Was, wenn Kerry diejenige ist, die hinter dem Bankdiebstahl steckt? Vielleicht ist Hogan kurz davor, ihren M. O. aufzudecken?« Cynthia benutzte die polizeiübliche Abkürzung für Modus Operandi. »Sie wird nervös. Sie wußte, daß er an dem Abend noch spät in der Bank arbeitete. Millionen Dollar stehen auf dem Spiel. Sie tötet Hogan.«
»Und schlägt sich selbst so fest auf den Kopf, daß sie ohnmächtig wird - und hält dabei noch die Pistole in der Hand?« Harry war fassungslos.
»Da haben wir ein Problem.« Cynthia nickte. »Aber Kerry könnte einen Komplizen haben. Er - oder sie - schlägt sie auf den Kopf, so daß sie unschuldig aussieht.«
»Und ich kann zum Mond fliegen.« Harry atmete scharf ein. »Dieser Sommer ist absolut beschissen.«
»Sehr elegant ausgedrückt.« Cynthia deutete ein Lächeln an.
»Vergessen Sie mal für eine Minute, daß Sie Polizistin sind, und seien Sie einfach eine von uns. Glauben Sie wirklich, daß Kerry Hogan umgebracht hat?«
Cynthia wartete lange mit der Antwort. »Das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß die .357er dieselbe Waffe ist, mit der Mike Huckstep getötet wurde.«
»Was?« Das schnürte Harry die Kehle zu.
»Das Ergebnis der ballistischen Untersuchung ist heute morgen um sechs gekommen. Rick treibt alle Leute zur Eile. Dieselbe Waffe. Wir würden diesen Leckerbissen gerne vor den Zeitungen geheimhalten, aber ich bezweifle, daß der Chef das kann. Sein Job ist so verdammt politisch.«
»Huckstep und Hogan Freely.« Harry runzelte die Stirn. »Der eine ein Hell's Angel, der andere ein Bankdirektor.«
»Vielleicht führte Hogan ein Geheimleben?« vermutete Kerry.
»So geheim bestimmt nicht.« Harry schüttelte den Kopf.
»Sie würden staunen, was die Leute alles voreinander verbergen können«, entgegnete Cynthia.
»Das weiß ich wohl, aber manchmal muß man sich auf seinen Instinkt verlassen«, erwiderte Harry.
»Schön, und was sagt Ihnen Ihr Instinkt?« forderte Cynthia sie heraus.
»Hogan war der Lösung auf der Spur, und das heißt, daß sie in der Bank zu finden ist.«
»Ich denke, Sie haben recht.«
Kerry stöhnte. »Ich sitze ganz schön in der Tinte, was?«
Cynthia sah sie durchdringend an.
26
Aufgrund bundesstaatlicher Vorschriften durfte die Bank am Montag nicht geschlossen bleiben. Wäre Hogan während der Geschäftszeit erschossen worden, hätte man ihn nach dem Buchstaben des Gesetzes tatsächlich dort liegenlassen müssen, und die Geschäfte wären weitergegangen, während der Sheriff seine Arbeit tat. Man hätte über die Leiche hinwegsteigen müssen. Dieses strikte Verbot des Schließens einer Bank war in den dreißiger Jahren erlassen worden, als die Banken ihre Türen verriegelten oder zusammenbrachen wie Kartenhäuser. Wie immer, wenn Gesetzgeber die Verbesserung eines Gesetzes ausbrüten, lassen sie dabei die Menschen außer acht. Die Angestellten der Crozet National Bank arbeiteten mit Trauerflor um den linken Arm. Ein riesiger schwarzer Kranz hing am Ende der Eingangshalle, ein kleinerer an der Eingangstür. Draußen wehte die Flagge des Staates Virginia auf halbmast. Mary Thigpen, seit fünfundzwanzig Jahren die erste Kassiererin, brach immer wieder in Tränen aus. Viele Augen waren rot gerändert.
Das ganze Gerede über Kerry machte Norman so wütend, daß er schrie: »Sie ist unschuldig, bis die Schuld erwiesen ist, also haltet den Mund!«
Rick Shaw hatte die obere Etage mit Beschlag belegt, so daß die Kontenabteilung sich zusammenquetschen mußte, aber die Leute kamen zurecht. Von den Blutspritzern an der Wand in Hogans Büro wurde Norman schwummerig. Er war nicht der einzige.
Nachdem Mim Sanburne bei Laura Freely abgelöst worden war, kam sie vorbei, um bekanntzugeben, daß der Trauergottesdienst am Donnerstag in der lutherischen Kirche von Crozet abgehalten werde. Die Familie werde Mittwoch abend Kondolenzbesuche empfangen.
Gedämpfte Stille folgte auf Mims Verkündigung.
Drüben im Postamt bat Harry Blair, ihr zu helfen, während Miranda das Essen für Mittwoch abend organisierte. Dudley Freely erwies sich infolge des Schocks als handlungsunfähig. Thea, die Ältere, war schon eher imstande, einige der Entscheidungen zu treffen, die das Geschehen ihr aufzwang. Was für ein Sarg, oder sollte es eine Einäscherung sein? Welcher Friedhof? Blumen oder Spenden für wohltätige Einrichtungen? Sie bewältigte diese Aufgaben, doch zwischendurch mußte sie sich immer wieder hinsetzen. Sie hatte nicht gewußt, daß ein großer emotionaler Schlag körperlich erschöpfend ist. Mim und Miranda wußten es. Sie übernahmen das Kommando. Ottoline Gill und Aysha besorgten den Telefondienst. Laura lag kraftlos im Bett. Wenn sie zu Bewußtsein kam, schluchzte sie hemmungslos.