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Vol’jin zuckte die Schultern – nicht weil es ihn nicht interessierte, sondern weil er wusste, dass der Mensch es ihm ohnehin erzählen würde.

„Du hattest recht. Es ist der Akzent des Schlingendorntals. Ich fand einen Troll und behielt ihn ein Jahr bei mir. Ich bezahlte ihn gut, und er redete sich wohl ein, dass er mein Führer wäre. Er erfüllte seine Pflichten vorbildlich. Von ihm erlernte ich eure Sprache – zuerst, ohne dass er es überhaupt merkte. Ich hörte ihm einfach zu, und später unterhielten wir uns dann so. Ich habe ein Talent für Sprachen.“

„Das glaube ich dir.“

„Das Fährtenlesen ist auch eine Sprache. Jeden Tag bin ich seiner Fährte gefolgt, vom selben Fleck aus, bis seine Fußspuren sich verliefen. In der heißen Jahreszeit, nach dem Regen, lernte ich diese Sprache noch besser. Ich konnte sagen, wann er an einer Stelle vorbeigekommen war, wie schnell er gegangen war, ob gebückt oder aufgerichtet.“

„Hast du ihn nach diesem Jahr umgebracht?“

Tyrathan warf die schwarzen Würfel zurück in den Behälter. „Nicht ihn. Aber ich habe andere Trolle getötet.“

„Ich hab keine Angst vor dir.“

„Ich weiß. Ich habe auch Menschen getötet, ebenso wie du.“ Er stellte den Behälter auf den Tisch. „Dieser Troll, er nannte sich Keren’dal. Er betete. Zumindest dachte ich, er würde beten, und ich brachte es zur Sprache. Da sagte er, er würde mit den Geistern reden. Ich habe vergessen, wie er sie nannte.“

Vol’jin schüttelte den Kopf. „Das hast du nicht vergessen. Er hat’s dir nie erzählt. Geheimnisse bleiben Geheimnisse.“

„Manchmal war er reizbar, so wie du. Meistens dann, wenn er zu ihnen sprach, aber keine Antwort erhielt.“

„Antwortet dein Heiliges Licht dir denn, Menschling?“

„Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, daran zu glauben.“

„Wahrscheinlich hat es dich darum im Stich gelass’n.“

Tyrathan lachte. „Ich weiß, warum ich verlassen bin. Aus demselben Grund wie du.“

Vol’jin zwang sein Gesicht zu einer neutralen Maske, aber allein das zeigte ihm, dass er sich verraten hatte. Tatsache war, seitdem er durch Tyrathans Erinnerungen gewandert war, seit er die Welt durch die Augen des Menschen gesehen hatte, waren die Loa distanziert und leise. Es fühlte sich an, als würde der Sturm, der über das Kloster hinweggezogen war, in der Geisterwelt weitertoben. So konnte er Bwonsamdi und Hir’eek und Shirvallah zwar sehen, aber nur als vage graue Silhouetten, die hinter weißen Wogen verschwanden.

Er glaubte noch immer an die Loa, an ihre Führung und ihre Geschenke, und daran, dass es nötig war, sie anzubeten. Er war ein Schattenjäger. Er konnte Spuren mit derselben Leichtigkeit lesen wie Tyrathan; und genauso mühelos konnte er normalerweise mit den Loa in Kontakt treten. Doch dieser Sturm verschluckte Spuren und wehte Worte im wirbelnden Wind davon.

Er hatte versucht, sie zu erreichen, und sein letzter Versuch war überhaupt erst der Grund, dass er zu spät zu diesem Treffen mit Tyrathan gekommen war. Er hatte sich in seiner Kammer gesammelt und das Bewusstsein für seine Umgebung hinter sich gelassen, aber er konnte die Barriere des Sturms einfach nicht durchbrechen. Die Kälte, die Entfernung von seiner Heimat und die Tatsache, dass er ins Fleisch des Menschen geschlüpft war – all das schien ihn abzulenken. Er konnte sich nicht stark genug konzentrieren, um dieses Hindernis zu durchbrechen und die Distanz zwischen sich und den Loa zu überbrücken.

Es war, als hätte Bwonsamdi seinen Anspruch auf Vol’jin aufgegeben, als hätte er das Interesse an ihm verloren.

Der Kopf des Trolls ruckte hoch. „Und warum bist du verlass’n?“

„Wegen meiner Furcht.“

„Ich habe keine Angst.“

„Doch, das hast du.“ Tyrathan tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. „Ich kann es noch immer in meinem Geist spüren, Vol’jin. In meine Haut zu schlüpfen, hat dir eine Heidenangst eingejagt. Nicht weil du es abstoßend fandest – jedenfalls nicht nur deswegen. Sondern weil ich so zerbrechlich bin. Oh ja, dieses Gefühl ist in mir zurückgeblieben, bitter und ölig, und es wird nie wieder verschwinden. Es ist ein Eindruck, den ich sicher in Ehren halten werde, aber du scheinst zu übersehen, wie wichtig er für dich ist.“

Vol’jin nickte einmal, obwohl er eigentlich nicht wollte.

„Dass ich so leicht Schaden nehme, hat dich daran erinnert, wie nahe du dem Tod warst. Da lag ich, mit gebrochenem Bein, festgenagelt, ohne jede Hoffnung auf Flucht. Ich wusste, dass ich sterben würde. Und du hast dasselbe gefühlt, als sie versuchten, dich umzubringen. Weißt du noch, was danach geschehen ist?“

„Chen hat mich gefund’n. Mich hierher gebracht.“

„Nein, nein. Das hat man mir schon erzählt.“ Der Mensch schüttelte den Kopf. „Woran erinnerst du dich, Vol’jin?“

„Als ich in deinem Körper gewesen bin, warst du da in meinem?“

„Nein. Das würde ich auch nie tun. Es war schlimm für dich zu sehen, wie verwundbar ich bin, aber noch schlimmer wäre es, wenn ich sehen würde, wie unverwundbar du dich fühlst. Aber das ist nicht der Punkt. Erinnerst du dich, was nach dem Kampf geschah? Wie du dorthin gelangt bist, wo Chen dich gefunden hat? Weißt du überhaupt, warum du noch am Leben bist?“

„Ich lebe, Mensch, weil ich nicht sterben wollte.“

Der kleine Käfer von einem Mann lachte arrogant. „Das redest du dir ein. Aber genau das ist es, wovor du Angst hast. Du weißt es nämlich nicht. Dieses Glied in der Kette der Ereignisse zwischen dem Vol’jin, der du warst, und dem Vol’jin, der du jetzt bist, wurde durchtrennt. Du kannst zurückblicken, und du siehst, wer du warst. Du kannst dich fragen, ob das noch immer du bist – aber da ist eine Leere. Du bist dir nicht sicher. Du kannst nicht sicher sein“

Der Troll knurrte. „Und du bist sicher.“

„Wer ich bin?“ Wieder lachte Tyrathan, aber die Tonlage hatte sich verändert. Jetzt durchzogen Melancholie und ein Hauch von Wahnsinn den Laut. „Du hast gesehen, was du gesehen hast. Soll ich dir den Rest erzählen? Das, was du nicht gesehen hast?“

Wieder reagierte Vol’jin nur mit einem Nicken, wobei er versuchte, nicht über die Worte des Mannes zu urteilen.

„Ich habe aufgehört, Tyrathan Khort zu sein. Ich bin nicht als Mensch von diesem Ort fortgekrochen, sondern als Tier. Vielleicht sah ich mich selbst, wie mich auch ein Troll sehen würde. Verwundet, erbärmlich, angetrieben nur von Hunger und Durst. Ich, ein Mann, der mit Fürsten und Prinzen an einem Tisch gesessen, das beste Fleisch auf einem Silberteller vorgesetzt bekommen hatte, musste plötzlich Larven aus sterbenden Bäumen kratzen. Ich aß Wurzeln, weil ich hoffte, dass sie mich entweder heilen oder ganz umbringen würden, aber viele von ihnen sorgten einfach nur dafür, dass ich mich noch elender fühlte. Ich deckte mich mit Schlamm zu, um das Ungeziefer fernzuhalten, und ich knotete Zweige und Blätter in meine Haare, damit ich mich vor Jägern beider Seiten verstecken konnte. Ich schreckte vor allem und jedem zurück, bis ein Pandaren, der gerade fröhlich summend Kräuter sammelte, über mich stolperte.“

„Warum hast du nicht deinen Tierbegleiter geruf’n?“

Das ließ Tyrathan innehalten. Er senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Nachdem er geschluckt hatte, klang seine Stimme angespannter, leiser. „Mein Tiergefährte hatte sich an den Mann gebunden, der ich einmal war. Ich wollte ihm nicht seine Ehre rauben, indem ich mich ihm so zeigen würde.“

„Und jetzt?“

Der Mensch schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht länger Tyrathan Khort. Mein Gefährte antwortet nicht mehr auf meinen Ruf.“

„Hat das damit zu tun, dass du den Tod fürchtest?“

„Nein, ich fürchte andere Dinge.“ Der Mann blickte auf, und seine Augen schimmerten wie Smaragde. „Du fürchtest den Tod.“

„Ich hab keine Angst vor dem Sterb’n.“