Rasch ging sie an Bord des kleineres Schiffes, auf dem sich ein Dutzend Schamanen in der Mitte des Hauptdecks versammelt hatten. Ein Drittel von ihnen saß kauernd auf dem Boden und stocherte in Knochen, Federn, Kieselsteinen und kleinen Metallstücken herum. Die anderen standen um sie herum, stumm und bedeutsam dreinschauend – umso mehr, als sie Khal’ak an Bord kommen sahen.
„Warum habt ihr noch nicht die Anker gelichtet?“
„Die Loa, sie sind unzufried’n.“ Einer der kauernden Schamanen blickte zu ihr hoch und deutete auf zwei überkreuzte Knochen, unter denen eine Feder lag. „Der Sturm war nicht gewöhnlicher Natur.“
Sie spreizte die Hände und widerstand dem Drang, den Mogu mit einem Tritt über die Seitenwand des Schiffes zu befördern. „Hast du das etwa erwartet? Was bist du eigentlich für ein Narr? Die Loa schienen nichts dageg’n zu haben, als wir nach Pandaria lossegelten. Du selbst hast das gesagt. Du sagtest, es würde in diesen Knochen und Fetz’n da stehen. Wäre das nicht ziemlich dumm von den Loa, unser Unternehmen erst zu segnen, nur um jetzt wegen einem Schneesturm zu protestier’n?“
Sie deutete auf den Ort, der verborgen im Inselinneren lag. „Du weißt, was wir getan hab’n. Der Donnerkönig hat sich wieder erhob’n. Dieser Sturm, er blies zu Ehren des Königs. So hat die Welt ihre Freude über seine Rückkehr gezeigt. Von allen Jahreszeit’n gefiel ihm der Winter am best’n. Von allen Wetterlagen hat er sich in stechendem, blendendem Schnee am lebendigst’n gefühlt. Du kannst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber die Welt schon, und auf diese Weise hat sie ihn willkomm’n geheißen. Jetzt wirfst du deine Knoch’n, um herauszufind’n, was die Loa denken? Hätt’n sie wirklich was dagegen gehabt, hätte es den Sturm nie gegeb’n.“
Gryan’zul, der jüngste und gleichzeitig vernünftigste der Schamanen, drehte sich zu ihr herum. Wegen seiner roten Mähne und seinen stark geschwungenen Hauern zog sie ihn den anderen vor, und das wusste er auch. Deshalb glaubte er, dass sie ihm Gehör schenken würde.
„Geehrte Khal’ak, was du sagst, ergibt Sinn. Die Loa hätten den Sturm aufhalten können. Wenn sie wollten, hätten sie unsere Armada schon längst gestoppt. Meine Brüder suchen also vielleicht nach Klarheit, wo es keine Unklarheit gibt, aber die Tatsache, dass sie danach suchen, zeigt, dass es zumindest Verwirrung gibt.“
Das Fell in ihrem Nacken stellte sich auf. „Deine Worte sind weise. Mehr davon, bitte.“
„Die Loa verlangen und verdienen unsere Verehrung – die Verehrung durch alle Trolle. Sie schätzen Stärke. Wir haben einander als Opfer dargeboten, und dieses Opfer wurde akzeptiert, aber es ist nicht das, was sie wirklich wollen. Darum antworten sie uns seltener, darum sprechen sie auch zu anderen. Wir sind nicht die Einzigen, die nach Pandaria gekommen sind. Die Allianz und die Horde sind auch hier.“
Sie blickte von einem Schamanen zum nächsten, bis sie das ganze Dutzend gemustert hatte. „Und das lässt euch stutz’n? Vielleicht versteht ihr nicht ganz. Vielleicht sollt ihr auch gar nicht verstehen. Mein Meister hat schon seit Langem gewusst, dass andere nach Pandaria komm’n würden. Ungeziefer findet immer einen Weg. Zu glaub’n, dass wir uns hier vor ihnen verkriech’n werden, ist dumm. Wir haben Pläne für einen solchen Fall. Unsere Feinde werd’n untergehen.“
Ein anderer Schamane, dieser mit kurzen Hauern, erhob sich. „Das ist ja schön und gut, wenn wir gegen die Allianz kämpf’n. Aber was ist mit der Horde?“
„Was soll mit ihr sein?“
„Es gibt Trolle in der Horde.“
„Auch wenn es sich zusammenschließt, Ungeziefer bleibt Ungeziefer. Und wenn einige Trolle nicht sehen, wie sehr sie sich erniedrigen, wenn sie einer solchen Meute beitreten, wenn sie glaub’n, dass sie dadurch aufsteigen würden, dann sind sie Narren. Trotzdem werd’n wir jeden dieser Trolle willkomm’n heißen, falls er die Richtigkeit unseres Tuns erkennt und sich uns anschließ’n will. Wir können immer neue Garnisonstruppen und Untergeordnete brauch’n, um kleinere Aufgab’n zu erledigen. Falls die Loa also abgelenkt sind, weil sie zu dies’n Trollen sprechen und ihnen sagen, dass sie zu uns komm’n sollen, dann soll es mir nur recht sein. Vielleicht solltet ihr sogar die Loa bitten, genau das zu tun.“
Sie schnaubte. „Aber erst, wenn das Schiff draußen vor dem Hafendamm ist.“
Der Schamane mit den kurzen Hauern schüttelte den Kopf. „Wir brauch’n Zeit, um alle Vorbereitungen zu treff’n. Ein Opfer muss dargebracht werden.“
„Ihr habt sechs Stund’n. Oder weniger. Bis zum Mondaufgang.“
„Das ist nicht genug Zeit.“
Sie richtete den Finger auf die Brust des Mogu. „Dann werde ich den Loa ein Opfer geben. Ich werde dein linkes Bein am Kai festbinden und dein rechtes am Schiff, und dann werde ich dem Kapitän befehl’n, den Anker zu lichten und loszusegeln. Möchtest du den Loa, deiner Flotte und deinem Volk auf diese Weise dienen?“
Gryan’zul schaltete sich ein. „Die Reinheit deines Glaubens, verehrte Khal’ak, gereicht deinem Meister und deiner Familie zur Ehre. Deine Treue zu den Loa ist zweifelsohne der Grund für unseren großen anfänglich’n Erfolg. Wir werden mit den Loa sprech’n, und wir werden bereit sein, sofort aufzubrech’n.“
„Du stellst unseren Herrn zufried’n.“
Der junge Troll hob einen Finger. „Eine Sache wäre da noch.“
„Ja?“
Der Schamane presste die Hände zusammen, die viel zu schlank und grazil waren, und seine Augen wurden schmal. „Die Loa sprechen zu uns und zu einigen in der Horde, aber das allein nimmt nicht ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.“
„Was tun sie denn sonst noch?“
„Genau darum geht es. Wir wissen es nicht. Deswegen machen wir uns Sorgen wegen dem Sturm. Wann immer wir herauszufinden versuchen, was da noch ist, verbirgt es sich hinter einem Vorhang. Es könnte ein Geist sein oder ein weit entfernter Troll. Es könnte die Geburt eines Trolls verkünd’n, der zu Großem bestimmt ist. Wir wissen es nicht, und wir müssen mit dir darüber reden, denn du suchst Gewissheit, wo es Zweifel gibt.“
Ein Schauder rann die gesamte Länge von Khal’aks Wirbelsäule hinab. Aus irgendeinem Grund beunruhigte sie die Nachricht von diesem Troll mehr als die Anwesenheit der Horde und der Allianz in Pandaria. Das waren schließlich bekannte Größen. Sie konnten die Zandalari ausrechnen. Aber wie entwickelt man einen Notfallplan für etwas Unbekanntes? Die Mogu versicherten ihnen, dass die Pandaren mehr oder weniger wehrlos waren. Was könnte noch hier sein?
Sie blickte an dem Schamanen vorbei nach Süden, wo sich jenseits des Hafens die Nebel zusammenzogen. Ihre Flotte würde in die Nacht segeln und dann noch einmal durch eine Nacht. Sie war schon einmal in Pandaria gewesen, darum hatte sie auch den Ort ausgewählt, wo sie landen würden: ein Fischerdorf, klein und wertlos, aber mit einem anständigen Hafen. Sobald sie Anker geworfen und diesen Hafen gesichert hatten, würden sie ins Inland vorstoßen. Ihre Trollspäher berichteten, dass es nichts gab, was die Zandalari aufhalten oder auch nur verlangsamen könnte.
Es sei denn, wir lassen uns von denen Bange mach’n, die am meisten zu verlier’n haben, wenn wir gewinnen. Sie warf Gryan’zul einen weiteren Blick zu, und sie spürte, dass er keine Spielchen spielte. Falls er Macht wollte, würde sie ihm Macht geben, das wussten sie beide. Demnach mussten seine Bedenken echt sein.
Khal’ak nickte. „Ihr werdet euch zum Auslaufen vorbereiten. Und ihr werdet euren Will’n anstrengen und herausfinden, was in der Leere, in diesem bleichen Schatt’n, verborgen ist. Ihr alle. Falls ihr mir keine Antwort’n liefern könnt, werde ich euch an die Loa verfüttern, bis sie es mir selbst sagen. Etwas, das nicht existiert, kann uns nicht aufhalten.“
Weit im Süden wurde Vol’jins Schlaf in dieser Nacht von einer Vision gestört. Das überraschte ihn, denn seit Hir’eeks Besuch hatten die Loa ihn ignoriert, und er hatte beschlossen, sie ebenfalls zu ignorieren. Er wusste, er musste erst herausfinden, wer er war, bevor er wieder in Kontakt mit ihnen treten konnte, andernfalls würde er nur versuchen, die Person zu imitieren, die er einmal gewesen war. Und so, wie Tyrathans Tiergefährte sich weigerte, einem Ruf zu folgen, wenn er die Stimme nicht erkannte, würden auch die Loa nicht reagieren, denn er war nicht mehr der Troll, der dieses Band geknüpft hatte.