„Mich erinnert es an eine Zeit und ein Land jenseits des Nebels. Damals hatten mich drei ausgehungerte Oger zum Abendessen eingeladen. Nun, nicht wirklich eingeladen – ich war das Abendessen. Sie stritten sich darüber, wie ich wohl munden würde. Wegen meiner Flecken glaubte einer, dass mein Fleisch wie das eines Hasen schmecken müsste, und ich sagte: ‚Nah dran.‘ Der zweite tippte aus offensichtlichen Gründen auf Bär, und ich sagte: ‚Wieder nah dran.‘ Der dritte meinte nur Krähe – er hatte eine merkwürdige Delle in seinem Schädel. Auch dazu sagte ich: ‚Ganz nah dran.‘ Und so stritten sie sich weiter.“
Einer der Mönche lächelte. „Und Ihr habt die Gelegenheit zur Flucht genutzt.“
„Nah dran.“ Chen lächelte und nahm noch einen Schluck. „Ich bot ihnen an, diesen Streit durch einen Wettstreit zu entscheiden, und sogar einen Preis versprach ich ihnen. Zunächst trug ich ihnen auf, einen Hasen, einen Bären und eine Krähe zu fangen und sie zu kochen, damit sie den Geschmack dieser Tiere im Mund hätten, denn nur so würden sie wirklich sagen können, wonach ich schmecke. Ich würde derweil ein Gebräu für jede Mahlzeit zubereiten und noch eines, das wir alle gemeinsam genießen könnten. Also zogen sie davon und machten sich auf die Jagd nach dem Tier, das sie genannt hatten. Anschließend kochten sie ihre Beute, ich braute ihnen ein Bier, und sie aßen. Dabei warf ich die Frage ein, welches Bier wohl mit welchem Fleisch am besten schmeckte, und das löste einen erneuten Streit aus. Sie tauschten also reihum ihre Speisen und Getränke aus. Und nachdem sie die ganze Nacht gegessen und getrunken hatten, konnte ich als einzig Nüchterner am nächsten Morgen einfach davonspazieren.
Dieses Gebräu erinnert mich daran, wie sich die Freiheit im Licht des Sonnenaufgangs anfühlte.“
Die Mönche lachten und applaudierten, und selbst Tyrathan grinste. Allein Taran Zhu und Vol’jin ließen sich von der Geschichte nicht rühren. Der Troll nahm einen Schluck und nickte, dann setzte er die Schale ab. „Mich erinnert es an den Fried’n, den ich spüre, wenn ich den Schädel meiner Feinde zertrümmere – wenn ihre Träume mit ihnen sterb’n und die eigene Zukunft dadurch viel klarer wird, wie ein Morg’n nach dem Regen. Es ist knackig wie das Echo von brechenden Knoch’n. Die Süße ist wie die Freude, wenn man ihr letztes Ächz’n hört. Davon abgeseh’n schmecke auch ich Freiheit.“
Nach der Geschichte des Trolls herrschte erst mal Stille, und die Mönche starrten ihn aus weiten Augen an. Nun trank Tyrathan, und er lächelte. „Für mich ist es wie der Herbst, wenn die letzten Blätter sich braun und golden färben. Wenn man die letzte Ernte einholt, die letzten Beeren sammelt, wenn alle zusammenarbeiten, um Vorräte für den kommenden Winter anzulegen. Es ist eine Zeit der Einheit und der Freude; man bereitet sich auf die Ungewissheit des Winters vor, aber jeder weiß, dass harte Arbeit letzten Endes belohnt wird. Also schmeckt es auch für mich wie Freiheit.“
Chen nickte. „Ja, ihr beide habt die Freiheit gefunden. Gut.“ Er blickte zu Taran Zhu hinüber, der seine Schale noch nicht angerührt hatte. „Und Ihr, Meister Taran Zhu?“
Der älteste Mönch blickte in seine Schale und nahm sie dann vorsichtig mit beiden Pfoten auf. Er roch an ihr und nahm einen kleinen Schluck. Er schnupperte noch einmal, trank dann wieder ein wenig und setzte die Schale schließlich wieder ab.
„Für mich ist das keine Erinnerung. Es ist ein Bild der Gegenwart. Ein Bild vom Zustand der Welt.“ Langsam beugte er den Kopf. „Ein Bild von Freiheit, von Veränderung. Es deutet den kommenden Wandel an. Das Erschlagen von Feinden, vielleicht. Ein bevorstehender Winter, sicher. Aber genauso, wie Ihr dieses Getränk nie wieder auf genau dieselbe Weise brauen könnt, wird auch die Welt nie wieder einen Moment genau wie diesen erleben. Und leider auch nie wieder einen solchen Frieden.“
12
Vol’jin spürte noch immer den bitteren Geschmack von Chens Gebräu auf der Zunge, als er vom Kloster aufbrach. Taran Zhus Worte hallten in seinem Kopf wider und wurden noch durch Tyrathans Geschichte über die Erntezeit bei den Menschen bekräftigt. Der Herbst, die Zeit, wenn die Welt starb; der Tod, die Linie zwischen alt und neu, eine andere Definition von Wandel. Solche Kreisläufe standen für das Neue, und Wesen, die sich ihrer selbst und der Zeit bewusst waren, wählten oft eine Jahreszeit oder ein willkürliches Datum, um ein Ende zu beschließen oder einen Anfang zu feiern.
Das Ende wovon? Der Anfang von was?
Er hatte nicht gelogen, als er die Gefühle und die Erinnerungen, die Chens Kreation in ihm hervorriefen, mit den anderen geteilt hatte. Ihm war aber klar, dass es harsche Worte gewesen waren und ganz sicher nicht das, was der Pandaren-Braumeister zu hören erwartete. Doch so waren die Erinnerungen eines Trolls nun einmal, und nur weil sie nicht denen eines Pandaren entsprachen, waren sie nicht weniger richtig. Jeder Troll hätte dasselbe gespürt, denn das war ihre Natur, das, was sie zu Trollen machte. Trolle sind die Herr’n der Welt.
Er fröstelte, als er in nördlicher Richtung den Berg hinaufkletterte. Seine Füße fanden nichts als Schnee, und er kauerte sich in den Schatten zusammen, um Frost und Eis tief in sich aufzusaugen. Sie sollten ihn abhärten, doch sie erinnerten ihn vor allem an die Kälte des Grabes. Die Trolle waren einst die Herren der Welt gewesen.
Sein Vater Sen’jin hatte erkannt, dass die anderen Trolle, die vom Wiederaufstieg ihres Volkes träumten, Narren waren. Sie wollten die Welt nach ihren Wünschen verbiegen, wollten alles und jeden unterwerfen. Doch wofür?
Damit sie die Freiheit spüren konnten, mit der Chens Gebräu ihn erfüllte?
So unwillkürlich wie ein Blitz traf ihn eine Erkenntnis, zu der auch sein Vater gelangt sein musste, die er aber nie mit ihm geteilt hatte. Falls dieses Gefühl der Freiheit das Ziel war, dann stellte sich die Frage, ob völlige Eroberung der einzige Weg war, es zu erreichen. Um frei von Furcht zu sein, frei von Nöten, frei, in die Zukunft zu blicken, musste man seine Feinde nicht töten. Nun ja, vielleicht einige wenige, aber tote Feinde waren nicht das Fundament, auf dem diese Freiheit fußte.
Der Troll dachte an die Tauren, die im relativen Frieden und der Abgeschiedenheit von Donnerfels lebten. Viele von ihnen schlossen sich der Horde an und kämpften, doch sie schienen nicht dazu gezwungen zu werden. Vielmehr traten sie bei, weil es richtig und ehrenhaft war und weil sie ihren Verbündeten im Krieg gegen die Allianz helfen wollten, nicht weil irgendwelche jahrtausendealte Traditionen es verlangten.
Es war nicht so, als hätte sein Vater die Abkehr von den alten Sitten befürwortet. Hin und wieder hatte Vol’jin Trolle gesehen – blaue Tauren, wie Chen sie nannte –, die unter den Tauren lebten und ihre Traditionen angenommen hatten. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie einen friedlicheren Eindruck gemacht hatten als die anderen Trolle, aber er wusste noch, dass sie wegen des zerrütteten Verhältnisses zu ihren Bräuchen nicht mit den anderen harmonisierten. Sie hatten eine Kultur gegen eine andere eingetauscht, aber es schien, als würden sie in keine von beiden mehr richtig hineinpassen.
Nein, Sen’jin hatte großen Respekt vor allen Troll-Traditionen gehabt. Wäre dem nicht so gewesen, hätte er völlig mit den alten Sitten brechen wollen, dann hätte Vol’jin wohl kaum den Weg eines Schattenjägers eingeschlagen. Sein Vater hatte ihn auf diesem Weg stets unterstützt, und zwar indem er nach vorne blickte. Er hatte betont, wie wichtig Lektionen in Führerschaft waren; wichtiger, als blind Traditionen nachzuahmen.
Eine Bemerkung, die Chen gemacht hatte, fiel Vol’jin wieder ein, als er sich erhob und weiterging, höheren Lagen und kälteren Schatten entgegen. Etwas, das wohl Taran Zhu gesagt hatte, über Schiffe und Anker und Wasser. Traditionen konnten das Wasser sein, das es dem Schiff erlaubte zu reisen; sie konnten aber auch der Anker sein, der jegliche Bewegung verhinderte. Die Loa und was sie von den Trollen verlangten, könnte man wohl als einen Anker betrachten. Die Geister und ihre Bedürfnisse entstammten einer früheren Zeit. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen und die Loa zu ehren, hatten Trolle gewaltige Reiche gegründet und ganze Zivilisationen ausgelöscht.