Falls er das Band zu ihnen durchschnitt, wäre er frei von diesem Anker, aber dann würde er haltlos durch gefährliche Gewässer treiben. Es wäre eine unüberlegte und radikale Handlung, genau die Art, von der sein Vater ihm abgeraten hätte. Doch was, überlegte Vol’jin, wenn die Loa die Strömung und das Meer waren, die das Schiff antrieben.
Dann wäre unsere Geschichte der Anker, der uns auf ewig in derselben Bucht festhält.
Doch bevor er sich weiter mit diesem Gedanken beschäftigen konnte, umrundete er eine Biegung, und da stand Tyrathan Khort, das Gesicht nach Nordosten gewandt, und starrte in die dunstige Ferne. Vol’jin zögerte; er wollte in seine eigene Einsamkeit flüchten, und auch die des Menschen wollte er nicht stören.
„Du bewegst dich weniger geräuschvoll als die meisten Trolle, Vol’jin, aber ich wäre schon tausendmal gestorben, wenn ich nicht hören könnte, wie du dich an mich herangeschlichen hast.“
Vol’jin reckte den Kopf hoch. „Trolle schleichen nicht. Und du hast mich auch nicht gehört.“ Er beobachtete, wie der Bergwind den roten Wollmantel an den Körper des Mannes drückte. „Was hat mich verrat’n? Chens Gebräu oder ein Geruch?“
Tyrathan drehte sich langsam herum, ein Lächeln auf den Lippen. „Ich habe viele Stunden damit verbracht, deinen Geruch aus den Bettlaken zu waschen.“
„Ich wollte dich nicht stör’n.“
Der Mensch schüttelte den Kopf. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“
„Du hast mir nichts getan.“ Vol’jin ging in die Hocke, seine Füße sanken im Schnee ein. Er wollte noch hinzufügen, dass jede Geringschätzung, die ein Mensch ihm erweisen könnte, ohnehin unter seiner Würde wäre, aber dann begnügte er sich mit den Worten, die bereits gesprochen waren.
„Als ich sagte, du hättest Angst, wollte ich dich kränken. Ein Schatten von dir blieb in meinem Kopf zurück. Sogar jetzt spüre ich ihn noch. Er wird zwar immer schwächer, aber er ist trotzdem da. Du bist da. Nun, ich dachte, ich könnte ihn vertreiben, indem ich dich vertreibe. Ich wollte nicht, dass du in meiner Nähe bist, darum habe ich dich verletzt.“ Tyrathan blickte mit gefurchter Stirn zu Boden. „Dieses Verhalten ist unter der Würde des Mannes, der ich war, und es soll auch nicht Teil des Mannes sein, der ich werden möchte.“
Vol’jin kniff die Augen zusammen. „Wer willst du denn werd’n?“
Der Mensch schüttelte den Kopf. „Ich kann dir sagen, was ich nicht sein will, aber nicht, was ich sein will. Weißt du, warum ich an dem Tag, als der Sturm kam, hier angehalten habe? Weißt du, warum ich so gedankenverloren war, dass ich den Blizzard nicht kommen sah? Dir müsste doch besser als jedem anderen klar sein, dass solch ein Sturm sich nicht an mich heranschleichen könnte.“
„Dein Körper war hier. Dein Geist nicht.“
„Ja.“ Tyrathan drehte sich halb herum und zeigte mit der Hand auf die fernen grünen Täler. „Bevor ich Sturmwinds Ruf folgte, um hier zu kämpfen, schwor ich, dass ich nicht sterben würde, bevor ich nicht noch einmal die grünen Täler meiner Heimat gesehen hätte. Das war mein Versprechen an meine … Familie. Ich habe noch nie mein Wort gebrochen. Sie wussten, dass ich zurückkehren würde. Doch die Person, die ich war, die diesen Schwur abgelegt hat, die gibt es nicht mehr. Bin ich noch immer an dieses Versprechen gebunden?“
Etwas in Vol’jins Magen zog sich zusammen. Bin ich an die Traditionen und Versprechen gebund’n, die von lange toten Trollen gemacht wurd’n? Bin ich ihren Träumen und Wünschen verpflichtet?
Er strich mit dem Finger durch den Schnee und hinterließ eine Furche in der Kruste. „Wenn du die Rolle des Mannes annimmst, der du mal warst, wirst du wieder zu ihm. Wenn du eine neue Person sein willst, dann ist das hier das Tal deiner Heimat.“
„Dann sind Schattenjäger also auch Philosophen, hm?“ Tyrathan Khort lächelte. „Ich hatte dich schon einmal gesehen, bevor du ins Kloster kamst. Ich war bei den Truppen aus Kul Tiras – man hatte mich an Daelin Prachtmeer ausgeliehen. Damals war ich natürlich viel jünger, mein Haar war dunkler und meine Haut glatter. Aber du hast dich nicht wirklich verändert, abgesehen von ein paar Narben. Ein anderer Jäger wollte zehn Gold wetten, dass er dich töten könnte. Später hörte ich, dass er bei der Trolljagd gestorben ist.“
„Du bist nicht auf die Wette eingegangen.“
„Nein. Wenn man sich völlig auf ein Ziel konzentriert, verliert man die anderen aus den Augen.“ Der Mann seufzte, und sein Atem wallte als weißer Dampf hervor. „Hätte man mir aber befohlen, dich zu töten …“
„Hättest du bei der Jagd dein Bestes gegeb’n.“
„Wenn ich Menschen oder Trolle jage – überhaupt jede denkende Kreatur –, werde ich daran erinnert, dass wir alle Tiere sind. Ich habe sowohl Menschen als auch Trolle getötet, und von beiden zu viele. Nicht, dass ich mitgezählt hätte.“ Tyrathan schauderte. „Ich kenne Jäger, die ihre Opfer zählen, aber ich finde das respektlos, morbide. Es reduziert ein lebendes Wesen auf eine Zahl. Und ich würde gerne glauben, dass ich mehr bin als nur ein Strich in jemandes Tagebuch.“
„Ist das deine Ansicht oder die deines alten Ichs?“
Der Mann beugte den Kopf. „Wir beide fühlen so. Und jetzt mehr denn je. Da ist etwas an der Art, wie die Mönche hier leben und wie sie sich verhalten. Sie haben Respekt vor dem Leben. Dieses Konzept von Balance, dem Streben nach Harmonie. Fragst du dich manchmal, ob das Neue das Alte ausgleichen kann, Vol’jin?“
„Das beschäftigt dich, hm?“
„Das tut es.“
„Ich glaube, es ist möglich.“
„In deinem Fall, oder auch in meinem?“
Der Troll öffnete die Hände und erhob sich. „Bei uns beiden. Du hast es selbst gesagt. Ein Kind trägt keine Last. Es kennt keine Grenzen. Aber es fehlt ihm an Erfahrung, darum kann es keine Balance find’n. Wir schon.“
„Dann können wir unserer Vergangenheit nicht entfliehen.“
„Nein? Ich bin Vol’jin, Anführer der Dunkelspeertrolle. Und du bist ein Mensch, ein Trollschlächter. Aber keiner von uns liegt tot oder blutend am Boden, und wir kämpf’n auch nicht.“
„Gutes Argument.“ Tyrathan kratzte sich am Bart. „Hier sind wir keine Feinde.“
Wieder fiel Vol’jin die Metapher des Schiffes ein. Er lächelte. „Du siehst deine Vergangenheit als Last. Du willst sie abwerfen. Solltest du es tun, wärst du frei, aber du würdest nicht wissen, wer du bist. Stell dir das Ganze als Schiffswrack vor. Ein Wrack kann man nie wieder ganz reparier’n. Aber man kann Teile davon bergen. Dieser Ort hier fühlt sich jetzt vielleicht wie ein Zuhause für dich an. Aber nur wegen der Erinnerungen, die du geborg’n hast.“
„Ich bin jedenfalls definitiv auf Grund gelaufen.“
Vol’jin nickte. „Die Jägerin, die getötet wurde. Wer war sie?“
Tyrathan schüttelte den Kopf und hob die behandschuhte Linke vor seinen Mund. „Ich weiß es nicht wirklich.“
„Deine Erinnerung an sie ist sehr stark.“
„Ihr Name war Larsi. Ich begegnete ihr, bevor wir in See stachen. Vorher hatte ich sie nie gesehen. Aber sie dankte mir. Als sie gehört hatte, dass ich zu einer unerforschten Insel aufbrechen würde, war ihr klar gewesen, dass sie sich ein solches Abenteuer nicht entgehen lassen konnte, wie sie sagte.“ Er schlang die Arme um sich. „Sie … wann immer ich einen Freiwilligen brauchte, trat sie vor. Sie sorgte dafür, dass warmes Essen für mich bereitstand und mein Zelt aufgestellt wurde. Wir waren keine Liebenden. Wir haben nicht einmal sonderlich viel miteinander gesprochen. Sie hatte einfach das Gefühl, als würde sie mir etwas schulden. Und da sie nur da war, weil ich dort war …“