„Ja, Chen, natürlich. Mein Fehler.“ Die Augen des Menschen funkelten. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass ihr Gefühle füreinander habt. Und sie scheint etwas Besonderes zu sein.“
„Das ist sie. Bei ihr fühle ich mich … zu Hause.“ So, jetzt hatte er es ausgesprochen. Pandaria mochte der Ort gewesen sein, nach dem er sein ganzes Leben lang gesucht hatte, aber sie war der Grund, warum er sich überhaupt auf diese Suche gemacht hatte. „Ja, bei ihr fühle ich mich zu Hause.“
„Fein. Also heiratet, bekommt Kinder und werdet gemeinsam im Schatten deiner Brauerei alt. Oder deiner Brauereien.“
„Das würde mir gefallen.“ Chen lächelte, aber nur kurz. „Dürfen Shado-Pan-Mönche überhaupt heiraten? Dürfen sie Kinder haben?“
„Ich bin sicher, dass sie das dürfen.“ Der Mensch lachte leichtherzig. „Und ich bin sicher, eure Kinder würden euch mächtig auf Trab halten.“
„Nun, du wärst jederzeit bei uns willkommen. Ich würde dir sogar dasselbe Privileg anbieten wie Yalias Vater: Dein Krug würde nie leer sein, wenn du in einem meiner Brauhäuser bist. Du könntest auch deine Familie mitbringen, dann könnten deine Kinder mit meinen spielen.“ Chen runzelte die Stirn. „Hast du eine Familie?“
Tyrathan blickte das halb aufgegessene Reisbällchen in seiner Hand an, dann wickelte er es wieder ein. „Das ist eine interessante Frage.“
Der Magen des Pandaren zog sich zusammen. „Du hast sie doch nicht verloren, oder? Hat ein Krieg sie …“
Der Mensch schüttelte den Kopf. „Sie leben noch, soweit ich weiß. Aber jemanden zu verlieren, heißt nicht, dass er tot ist. Das ist etwas völlig anderes. Was immer du tust, Chen, verliere niemals Yalia.“
„Wie könnte ich sie verlieren?“
„Allein die Tatsache, dass du mich das fragst, bedeutet wahrscheinlich, dass du sie nicht so davongleiten lassen würdest.“ Tyrathan legte sich auf den Bauch und studierte die Straße. „Ich würde meinen rechten Arm für eines dieser Gnomenfernrohre geben. Oder für das Goblin-Gegenstück. Oder besser noch, für eine Batterie ihrer Kanonen. Das war das Merkwürdige an den Zandalari-Schiffen: Sie hatten keine Kanonen. Ich habe nichts außer Trollen gesehen.“
„Vol’jin könnte dir sicher den Grund dafür nennen.“ Chen nickte, während er sich neben dem Menschen ausstreckte und den Blick über die Straße schweifen ließ. „Er wollte ja mitkommen, aber du hattest recht. Taran Zhu braucht ihn dringender als wir.“
„Wie ich ihm schon sagte, dies ist meine Art der Kriegsführung.“ Tyrathan rutschte vom Kamm des Hügels nach unten in die Senke. „Mit einer Taktik bin ich schnell bei der Hand, aber ich bin kein strategischer Denker. Er hingegen hat sich schon bei der Horde um solche Dinge gekümmert. Was ich sagen will, ist, weder ich noch du könnten das tun, aber er schon. Und das wird Pandarias Rettung sein.“
Die nächsten drei Tage folgten Pandaren und Mensch im Zickzack dem Verlauf der Straße, wobei sie auf jedes Detail achteten. Verglichen mit dem Tempo, mit dem sie sich nach Norden vorarbeiteten, hätte sich selbst eine Schnecke wie ein fliegender Greif gefühlt. Tyrathan machte zahlreiche Notizen und zeichnete ebenso viele Skizzen, und Chen vermutete, dass seit der Herrschaft des letzten Mogu-Kaisers niemand mehr so gründlich dieses Land inspiziert hatte.
Sie schlugen ihre Lager in den höheren Lagen auf, verzichteten aber auf Lagerfeuer. Für Chen mit seinem Fell und seinem massigen Körper war das nicht weiter schlimm, aber Tyrathan setzte die Kälte sichtlich zu, und oft war es schon mitten am Morgen, wenn sie bereits ein oder zwei Meilen zurückgelegt hatten, dass die letzten sichtbaren Zeichen seines Humpelns verschwanden. Der Mensch gab sich große Mühe, jegliche Spuren ihrer Reise zu verwischen, und obwohl sie niemanden sahen, beharrte er darauf, dass sie immer wieder ein Stück zurückgingen, um möglichen Verfolgern einen Hinterhalt zu legen – nur für alle Fälle.
Indem er Tyrathan beobachtete und ihm half, begann Chen, auch Vol’jin und die Beweggründe für sein Handeln besser zu verstehen. Dass sie keinen zandalarischen Plünderern oder Scharmützlern begegneten, ließ darauf schließen, dass die Invasoren sich gut vorbereitet hatten und mit ausreichend Vorräten angerückt waren, wie der Mensch ihm erklärte. Nach Tyrathans Schätzungen hatten zwei Drittel der Schiffe Vorräte und Hilfskräfte an Bord gehabt, und da die Zandalari noch nicht nach Süden vorgerückt waren, rüsteten sie sich vermutlich für einen langen Feldzug. Einerseits gab das den Pandaren mehr Zeit, sich zu sammeln, andererseits bedeutete es aber auch, dass die Aufgabe, die vor ihnen lag, ungleich schwerer sein würde.
Und trotzdem sagst du, dass du kein guter Stratege bist. Chen gewann den Eindruck, dass Tyrathan einfach nicht ins Kloster zurückkehren wollte. Hier draußen, im Feld, war er ständig von Ablenkungen umgeben. Er wollte nicht über Zouchin nachdenken müssen, und auch wenn die Gründe Chen ein Rätsel blieben, hatte es doch vermutlich mit dem breiten Grinsen zu tun, das er nach der Schlacht auf dem Gesicht des Menschen gesehen hatte.
Obwohl der Mensch seine Fähigkeit, auf strategischer Ebene zu denken, herunterspielte, hatte Chen schon erlebt, wie leicht Vol’jin diese Art von Informationen verarbeiten und in einen exzellenten Schlachtplan einbringen konnte. Es war eine Sache, die Größe einer Armee einzuschätzen, aber eine völlig andere, zu erkennen, was ein guter General aus dieser Streitmacht herausholen konnte. Vol’jin verstand sich auf beides, und er war in der Lage, diese kleinen Fehler in einem Plan aufzuspüren, die selbst die beste Strategie zunichtemachen konnten.
Chen bemerkte, dass Tyrathan seine Gedanken über ihre Mission vor allem abends mit ihm teilte, in jenen stillen Stunden, wenn ein möglicher Themenwechsel die Sprache nur allzu leicht wieder auf seine Familie hätte bringen können. Aus natürlicher Neugier hätte Chen gerne mehr darüber erfahren, aber er vermutete, dass Chen mit einer Gegenfrage über Yalia kontern und ihn dann wegen seiner Absichten traktieren würde.
Diese Sticheleien wären gewiss ohne jede böse Absicht, und unter anderen Umständen und bei einem Krug Bier oder einer Tasse dampfenden Tees hätte Chen nach bestem Willen dagegengehalten, aber er wollte seine Gedanken an Yalia nicht verderben. Nein, diese Gefühle und Erinnerungen wollte er in Ehren halten. Und auch wenn er wusste, wie unwahrscheinlich die Zukunft war, die er sich mit ihr ausmalte, hatte er keine große Lust, an diese Tatsache erinnert zu werden.
Also ließen sie die Unterhaltung an diesem Punkt in der Dunkelheit verebben, und jeder war aus seinen eigenen Gründen froh darüber. Und dann, am nächsten Morgen, würden sie die Spuren ihres Lagers verwischen und weiterziehen.
Am dritten Tag entdeckten sie einen kleinen Bauernhof, der in die Seite eines Hügels hineingebaut war. Die Anhöhen ringsum waren terrassenartig ausgelegt, und einst waren sie auch sorgsam bebaut worden, doch nun spross dort Unkraut, und Tiere hatten an dem Getreide geknabbert. Im Norden zogen sich langsam dunkle Wolken zusammen, geschwängert mit schwarzem Regen. Ohne ein Wort zu wechseln, und nun weniger vorsichtig als zuvor, gingen die beiden zu dem Bauernhaus hinüber, kurz bevor die ersten Tropfen vom Himmel fielen.
Das Gebäude war solide aus Stein erbaut, mit einem Holzdach, das den Regen fernhielt. Der Bauer und seine Familie waren wohl von Flüchtlingen oder Mönchen gewarnt worden und geflohen, aber ungeachtet der Tatsache, dass einige Dinge in großer Hast eingepackt worden waren, machte das Haus noch immer einen sauberen, ordentlichen Eindruck. Um die Wahrheit zu sagen, fand Chen, abgesehen von den knarzenden Bodenbrettern, nichts an dem Ort auszusetzen.
Tyrathan hatte andere Dinge im Kopf. Er klopfte mit der Faust gegen die hintere Wand, auch in der Speisekammer neben der Feuerstelle. Dort klang das Pochen hohl, und so tastete der Mensch umher, bis er eine Art Hebel fand. Als er ihn zog, glitt die Wand der Speisekammer hinter den Kamin, und ein schwarzes Loch wurde sichtbar, mit Stufen, die in einen Lagerkeller hinabführten.