Tyrathan ging voran, den gezogenen Dolch in der rechten Hand, und Chen folgte ihm mit einem kleinen Knüppel in der einen Pfote und einer brennenden Laterne in der anderen. Als er die Mitte der Treppe erreichte, war der Mensch bereits unten angekommen, und einer von ihnen musste wohl auf einen Schalter getreten sein, denn die Wand der Speisekammer glitt hinter ihnen wieder zu und rastete mit einem Klicken ein.
Der Mann blickte nach oben, dann winkte er Chen die restlichen Stufen herunter. „Mein Freund, ich glaube, diesen Sturm werden wir äußerst komfortabel aussitzen.“
Der Lagerkeller war zwar winzig, aber er war mit Regalen ausgestattet, und auf jedem Brett standen Dutzende Gläser mit eingelegten Rüben und Kohl. Karotten stapelten sich in Körben, und Fisch, den der Bauer vermutlich gegen Gemüse eingetauscht hatte, hing in langen Reihen von den Deckenbalken.
In einer Ecke stand zudem ein kleines Eichenfass, das nur darauf wartete, angezapft zu werden.
Chen blickte erst das Fass, dann Tyrathan an. „Nur mal probieren?“
Der Mensch dachte eine Sekunde darüber nach und wollte gerade antworten, da jaulte der Wind über ihnen. Die Tür des Hauses flog mit einem lauten Donnern auf. Vielleicht war es nur der Sturm gewesen.
Doch das Trampeln schwerer Füße über ihren Köpfen und die harschen Verwünschungen, mit denen ein Troll das Wetter bedachte, ließen auf einen anderen Ursprung schließen.
Chen und Tyrathan wechselten einen Blick.
Langsam schüttelte der Mensch den Kopf. Sie würden das Fass nicht anzapfen, auch wenn sie vor dem Ende dieser Nacht vermutlich sehr durstig sein würden.
17
Vol’jin kauerte sich zusammen, ein Knie auf dem Boden, den rechten Unterarm gegen seine Rippen gepresst. Er hatte es weiter als je zuvor den Berg hinauf geschafft, auch wenn die Stelle, wo er mit Tyrathan gesprochen hatte, nur ein Stück unter ihm lag. Ab jenem Punkt wurde der Aufstieg zunehmend steiler, und wenngleich der Troll durchaus Erfahrung im Klettern hatte, verhinderten die Schmerzen in seiner Seite, dass er so vorankam, wie er es sich wünschte.
Gern hätte er sich Chen und Tyrathan auf ihrer Aufklärungstour angeschlossen, und er wartete schon voller Ungeduld auf ihre Berichte, zugleich freute es ihn aber, dass Taran Zhu die Meinung des Menschen teilte und den Troll bei den Vorbereitungen ihrer Verteidigung für unabkömmlich hielt. Nicht nur weil er Erfahrung in solchen Dingen hatte, sondern auch einfach, weil er ein Troll war und sich besser mit anderen Trollen und deren Verhalten auskannte als sonst jemand hier.
„Findet Ihr es nicht merkwürdig, Vol’jin, dass Ihr noch nicht völlig genesen seid, obwohl das Gift Euren Körper verlassen hat?“
Der Kopf des Schattenjägers ruckte herum, seine Brust hob und senkte sich noch immer heftig.
Taran Zhu stand kein halbes Dutzend Schritte unter ihm auf dem Pfad, und er sah aus, als hätte er gerade nur einen erholsamen Spaziergang gemacht.
Vol’jin führte das darauf zurück, dass der Mönch in besserer Verfassung war als die meisten anderen; darüber, dass er vielleicht selbst einfach nur in viel schlechterer Verfassung war, wollte er nicht nachdenken. „So etwas ist schon früher passiert. Zul’jin hat ein Auge verlor’n und sich den Arm abgehackt. Diese Wund’n sind nie verheilt.“
„Eine abgetrennte Gliedmaße oder ein komplexes Organ ist etwas anderes als ein Schnitt.“ Langsam schüttelte der Pandaren den Kopf. „Euer Hals bereitet Euch Schwierigkeiten beim Sprechen, Eure Seite quält Euch, wenn Ihr rennt oder in der Schlacht kämpft. Wir beide wissen, wärt Ihr mit Euren Freunden gegangen, hättet Ihr sie nur aufgehalten.“
Vol’jin nickte. „Trotz Tyrathans Bein.“
„Ja. Zugegeben, er hat mehr Zeit hier verbracht, aber dennoch ist er weiter genesen als Ihr.“
Die Augen des Trolls wurden schmal. „Und woran liegt das Eurer Meinung nach?“
„Auf einer gewissen Ebene glaubt er, dass er es verdient hat, gesund zu werden.“ Der Mönch schüttelte den Kopf. „Ihr hingegen glaubt es nicht.“
Vol’jin wollte eine Entgegnung brüllen, aber seine Kehle ließ es einfach nicht zu. Und genug Atem dafür habe ich auch nicht. „Fahrt fort!“
Der Pandaren lächelte auf eine Weise, die den Troll unendlich wütend machte. Dieses Lächeln wäre fast genug gewesen, um die Invasion der Zandalari zu rechtfertigen. „Es gibt eine Krabbenart, die sich eine Muschel als Panzer auswählt. Einst wuchsen zwei von ihnen, Brüder, Seite an Seite auf. Als sie größer waren, fand einer einen Schädel – das Gesicht war eingeschlagen worden, und so kroch er ins Innere. Der andere fand den Helm, der diesen Schädel einst geschützt hatte. Der erste liebte den Schädel und wuchs perfekt hinein, der zweite betrachtete den Helm nur als einen weiteren Panzer. Doch als die Zeit kam weiterzuziehen, wollte der erste seinen Schädel nicht verlassen. Der Totenkopf hatte ihn geformt, und so hörte er auf zu wachsen. Der zweite hingegen musste den Helm und seinen Bruder zurücklassen. Er konnte nicht aufhören zu wachsen.“
„Und welcher Bruder bin ich?“
„Das kommt darauf an, wie Ihr Euch entscheidet. Seid Ihr die Totenschädelkrabbe, die innerhalb ihrer Beschränkungen zufrieden ist?“ Taran Zhu zog die Schultern hoch. „Oder seid Ihr die Krabbe, die weiterwächst und nach einem neuen Zuhause sucht?“
Vol’jin fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Bin ich ein Troll, oder bin ich Vol’jin?“
„In gewisser Weise. Ich würde aber die Reihenfolge ändern. Seid Ihr Vol’jin, der beinahe in einer Höhle starb; oder seid Ihr ein Troll, der nach einem neuen Zuhause sucht?“
„Dieses Zuhause ist sicher auch eine Allegorie.“
„Mehr oder weniger.“
Habe ich mich selbst in dieser Höhle eingesperrt? Er dachte daran, wie er in diese Falle gelockt worden war, und Scham brandete durch seinen Körper. Ja, die Tatsache, dass er noch lebte, war ein Triumph, aber er hätte nie in dieser Schlacht kämpfen sollen. Garrosh hatte einen Köder ausgeworfen, und er hatte angebissen. Hätte der Kriegshäuptling ihn zum Abendessen eingeladen, nur sie beide an einem Tisch, wäre Vol’jin sofort von einer List ausgegangen und hätte den ganzen Dunkelspeerstamm mitgebracht.
Der Troll fröstelte.
Diese Scham ist es, in der ich gefang’n bin. Als er darüber nachdachte, erkannte er den schrecklichen Kreislauf. Kein Troll, der etwas auf sich hielt, hätte sich so leicht hereinlegen lassen. Nicht einmal ein Mensch wie Tyrathan wäre auf eine so durchsichtige List hereingefallen. Seine Scham war der Anker, der ihn festhielt, und dass er nicht mehr wusste, wie er entkommen war, bedeutete, dass er nicht die nötigen Werkzeuge hatte, um sich zu befreien. Der Mensch hatte recht gehabt: Vol’jin fürchtete, was er nicht wusste.
Doch indem er diesen Kreislauf vor sich sah, offenbarte sich ihm auch der Schwachpunkt darin. Wie er überlebt hatte, war unwichtig. Selbst wenn ihn Shed-Ling aus der Höhle gezerrt hatten, weil sie ihn dann im Fluss waschen und anschließend essen wollten, würde es nichts ändern. Was zählte, war allein, dass er noch lebte. Er konnte weiterwachsen. Er musste nicht eingesperrt sein.
Da hätten wir’s. Kein Troll sollte auf diese Weise gefangen sein, und darum hatte er sich mental von allem abgewandt, was einen Troll auszeichnete. Er hatte erbittert gekämpft, so wie ein Troll es tun würde, doch nur, um den Pandaren und den Zandalari – und einem Menschen – sein Trollsein zu demonstrieren. Gibt es noch Hoffnung für mich?
Er schüttelte den Kopf. Gefang’n zu sein, das ist nichts für einen Troll. Doch nur ein Troll hätte ein solches Gefängnis überleben können. Garrosh hatte einen seiner Schoßhunde, einen orcischen Attentäter geschickt, um ihn zu töten. Nur einen. Wusste der Häuptling der Horde es denn nicht besser? Hatte Vol’jin nicht gedroht, ihn mit einem Pfeil zu durchbohren? Um mich zu bezwing’n, braucht man Trolle oder Titanen. Wie kann er es wagen, mir einen Orc zu schick’n?