Der Mann deutete auf die Stelle, wo der Befehlshaber lag. „Er hat ein Protokollbuch. Das brauchen wir.“
Chen nickte, dann schlich er zum Fuß der Treppe. Hinter ihm, im Hauptbereich des Kellers, nahm Tyrathan seine zusammengebundenen Pfeile und schob die zweikantigen Spitzen zwischen die Spalten in der Kellerdecke, dann drehte er sie so, dass sie verkanteten, einer unter jedem der schlafenden Trolle. Den ersten Pfeil klemmte er unter den Kommandanten, gefolgt von den beiden gesprächigen Trollen, und den letzten platzierte er unter dem schweigsamen Krieger. Dort verharrte der Mensch anschließend auch, um zu Chen hinüberzublicken. Er deutete der Reihe nach auf die Pfeile, von dem neben ihm bis zu dem unter dem Kommandanten, dann bedeutete er dem Pandaren, die Treppe hochzugehen.
Chen nickte und machte sich bereit.
Der Mensch rammte den ersten Pfeil nach oben in den Körper des Trolls und drehte ihn herum. Noch bevor sein Opfer einen Schrei ausstoßen konnte, sprang Tyrathan in die Mitte des Kellers und stieß die beiden Pfeile dort nach oben, einen mit jeder Hand. Seine Opfer keuchten, und er wirbelte weiter, um auch den letzten Pfeil durch die Bodenbretter zu stoßen.
Chen stürmte die Stufen nach oben. Er hielt sich nicht mit der Suche nach dem Hebel auf, sondern rannte geradewegs durch die Geheimtür hindurch. Holz zersplitterte, und Geschirr und Schalen flogen in den Hauptraum, eine halbe Sekunde später gefolgt vom Körper des Pandaren. Rechts von ihm lag der schweigsame Troll auf der Seite; der Pfeil hatte sich durch seinen Oberarm in seine Brust gebohrt. Er versuchte mit dem freien Arm nach einem Messer zu greifen, aber Chen trat mit dem Fuß zu. Der Kopf des Zandalari wurde nach hinten gerissen und donnerte gegen die Wand.
Der Pandaren wirbelte herum und hielt inne. Die zwei gesprächigen Trolle wanden sich auf dem Boden. Einem ragte eine Pfeilspitze aus dem Bauch, der andere schien an seiner Wirbelsäule aufgespießt. Beide versuchten sich aufzusetzen, aber die die vierkantigen Pfeilspitzen verhakten sich in den Spalten zwischen den Brettern und hielten sie zurück. Blut spritzte im Rhythmus ihrer Schreie, als ihre Füße gegen den Boden hämmerten und ihre Finger Späne und Splitter aus dem Holz kratzten.
Der Kommandant, ein Schamane, stand an der Tür. Dunkle, pulsierende Energie sammelte sich zwischen seinen Händen. Die Schreie seiner sterbenden Kameraden hatten ihn gewarnt, und so hatte der Pfeil, der für ihn bestimmt gewesen war, nur seine Rippen gestreift. Er starrte Chen aus schwarzen Augen an, die vor Hass funkelten, dann zischte er einige unschöne Worte in der Trollsprache.
Der Pandaren wusste, was geschehen würde, wenn er nichts unternahm – und er wusste, dass es vermutlich selbst dann geschehen würde, wenn er etwas unternahm –, also spannte er sich und sprang. Doch er war nicht schnell genug.
Einen Herzschlag bevor sein fliegender Tritt den Troll erreichte und einen halben Herzschlag bevor der Schamane seinen Zauber vollenden konnte, schoss ein Pfeil durch den Boden. Er sauste an Chens Knöchel vorbei, zwischen den Händen des Zandalari hindurch und dann in seinen Körper. Die Spitze drang unter dem Kinn ein, nagelte dem Troll die Zunge an den Gaumen und trat dann aus seinem Schädel wieder hervor.
Nun landete Chen seinen Tritt, und der Schamane wurde durch die Tür nach draußen in die Dunkelheit des Sturms geschleudert.
Mit dem Bogen in der Hand tauchte Tyrathan auf der obersten Treppenstufe auf. „Hat der Hebel geklemmt?“
Der Pandaren nickte, während sich die Trolle neben ihm in ihren letzten Zuckungen wanden. „Ja. Er hat geklemmt.“
Der Mensch überprüfte den schweigsamen Troll und schnitt ihm dann die Kehle durch. Die beiden in der Mitte des Raumes waren augenscheinlich jetzt tot, aber er beugte sich dennoch über sie, bevor er schließlich zu der Stelle hinüberging, wo der Kommandant seine Sachen abgelegt hatte. In einer Tasche entdeckte er ein Buch und ein kleines Kästchen mit Schreibfedern und Tinte.
„Ich kann Zandalari nicht lesen, aber ich habe einen Teil ihrer Unterhaltung aufgeschnappt. Sie waren auf einer Erkundungsmission, genau wie wir.“ Tyrathan blickte sich um. „Erst mal müssen wir den anderen wieder reinholen. Sollen wir das Haus anzünden?“
Chen nickte. „Das wird vermutlich das Beste sein. Ich werde ein Fass im Keller aufschlagen und es mit meinem Feueratem entzünden. Aber ich werde mir diesen Ort einprägen, damit ich bei den Leuten, die hier lebten, Wiedergutmachung leisten kann.“
Der Mann blickte ihn an. „Es ist nicht deine Schuld, dass sie ihren Hof verlieren.“
„Vielleicht nicht, aber es fühlt sich so an.“ Der Pandaren schaute sich ein letztes Mal in dem Bauernhaus um, damit er sich daran erinnern könnte, wie es hier gewesen war. Anschließend verwandelte er es in einen Scheiterhaufen und folgte dem Menschen nach draußen in den Sturm.
Sie gingen nach Westen, in Richtung des Klosters, und stießen auf einen Höhlenkomplex, der sich in die Tiefe schlängelte. Hier konnten sie es wagen, ein Feuer zu machen, und Chen nutzte die Gelegenheit, um Tee aufzubrühen. Die Wärme war ihm willkommen, außerdem hatte er ein wenig Zeit, um nachzudenken, während Tyrathan das Buch studierte.
Der Pandaren hatte schon viele Kämpfe erlebt, und er hatte dabei Dinge gesehen, die er am liebsten sofort wieder vergessen hätte, genau wie er es seiner Nichte erzählt hatte. Manchmal funktionierte es. Das war eines der kleinen Wunder des Lebens: Man konnte die schmerzhaftesten Dinge vergessen, und wenn nicht das, so verblasste zumindest die Erinnerung an sie. Sofern man zulässt, dass sie verblasst.
Ja, er hatte viele Dinge gesehen, und er hatte viele Dinge getan. Blutige Dinge. Doch so etwas wie das, was Tyrathan in dem Bauernhaus getan hatte, hatte er noch nie erlebt. Es war nicht der Pfeilschuss durch den Boden, der ihm im Gedächtnis bleiben würde – obwohl er diesem Schuss vermutlich sein Leben verdankte. Er hatte schon genug Soldaten gesehen, denen ihre Schilde durch Pfeile an den Arm geheftet worden waren, um zu wissen, dass Holz gegen einen guten Schützen keinen ausreichenden Schutz bieten konnte. Zugegeben, es war ein spektakulärer Schuss gewesen, aber bei Tyrathan überraschte ihn das nicht weiter.
Nein, was Chen vielleicht nie wieder vergessen würde, war die Ruhe und Entschlossenheit, mit der der Mensch die Pfeile für seinen Angriff von unten vorbereitet hatte. Er hatte sie ganz bewusst zusammengebunden, nicht nur, damit sie töteten, sondern auch um auf die Möglichkeit vorbereitet zu sein, dass sie nicht töteten. Es war sein Plan gewesen, die Trolle festzunageln, und er hatte die Pfeilspitzen herumgedreht, nachdem er zugestoßen hatte, damit sie an Rippen oder Knochen hängen blieben.
Es gab Ehre in der Schlacht, Ehre, wenn man gut kämpfte. Als Tyrathan und Vol’jin bei Zouchin zurückgeblieben waren, um die Zandalari mit Pfeilen zu spicken und ihren Vormarsch aufzuhalten, war das ehrenvoll gewesen, denn so hatten die Mönche die Einwohner retten können. Den Trollen war es vermutlich feige erschienen, aber wer ein Fischerdorf mit Belagerungsmaschinen bombardierte, hatte keinerlei Ehre und auch keine verdient.
Chen goss den Tee ein und reichte dem Menschen eine kleine Schale. Der Mann nahm sie entgegen und schlug das Buch zu, dann atmete er den Dampf ein und trank. „Danke! Er ist perfekt.“
Der Pandaren rang sich ein Lächeln ab. „Steht etwas Nützliches da drin?“
„Der Schamane hatte eine künstlerische Ader. Er konnte gute Karten zeichnen, außerdem hat er Skizzen von einheimischen Tieren und Felsformationen angefertigt. Sogar ein paar Blumen hatte er zwischen den Seiten platt gedrückt.“ Tyrathan tippte mit dem Finger auf das Buch. „Einige der hinteren Seiten sind leer, abgesehen von Punkten in den vier Ecken. Diese Punkte habe ich auch auf einigen beschriebenen Seiten entdeckt, aber das Muster setzt sich danach weiter fort. Ich glaube, die Zeichen auf den leeren Seiten stammen von jemand anders.“
Chen nippte an seinem Tee. Er wünschte sich, das Getränk würde ihm mehr Wärme schenken. „Was bedeutet das?“