Er war weiter in der Zeit zurückgereist als jemals zuvor.
Vol’jin erkannte Pandaria wieder, aber er wusste, sollte er diesen Namen jetzt aussprechen, würde sein Gastgeber nicht wissen, was er meinte. Pandaria war der triviale Titel dieses Ortes. Sein echter Name wurde so streng von den Mogu gehütet, dass niemand ihn preisgeben würde, nicht einmal ihm gegenüber, obwohl er der Ehrengast war.
Pandaren, von denen aber keiner so rundlich wie Chen war, eilten hin und her, holten und brachten Dinge. Vol’jins Gastgeber, ein Mogu-Geistfetzer von ebenbürtigem sozialem Stand, hatte vorgeschlagen, dass sie auf einen Berg klettern könnten, um einen besseren Blick auf das Land zu haben, und nun machten sie nahe dem Gipfel Rast, um ihr Mittagsmahl einzunehmen.
Obwohl Vol’jins Körper Tausende Jahre in der Zukunft blieb, erkannte er ihren Rastplatz als den Ort wieder, wo dereinst das Kloster stehen würde. Und genau an der Stelle, wo er saß und unter seiner Maske an einem süßen Reiskuchen knabberte, lag er in der Gegenwart und schlief. Fast wollte er sich fragen, ob man ihm irgendwie Zugriff auf die Erinnerungen eines früheren Lebens gewährt hatte.
Die Vorstellung war aufregend, zugleich aber auch empörend.
Die Aufregung errang die Oberhand, doch er unterdrückte sie, denn so etwas entsprach nicht der Troll-Kultur, in der er aufgewachsen war. Die Zandalari blickten auf die anderen Trolle herab, und obwohl Trollstämme wie die Dunkelspeere Witze darüber machten, wie tief die Zandalari gefallen waren, galt: Nicht von den Zandalari respektiert zu werden, das war, als würde einem Kind die Liebe seiner Eltern vorenthalten. Es ließ eine Leere zurück, und ganz gleich, wie unwürdig die Eltern waren, man stürzte sich begierig auf jeden erreichbaren Rest an Güte, um diese Leere zu füllen. Als er nun also feststellte, dass er einmal ein Zandalari gewesen war, und sich zumindest einigermaßen wohl im Körper eines solchen Ur-Trolls fühlte, da befriedigte das ein Verlangen, welches Vol’jin am liebsten leugnen wollte.
Aber dass ich seine Existenz anerkenne, heißt nicht, dass ich sein Sklave bin. Der Aspekt, der ihn so anwiderte, machte es leichter, sich von diesem Verlangen abzuwenden. Einer der Diener hatte es versäumt, die Tasse seines Gastgebers schnell genug wieder aufzufüllen, und nun deutete der Mogu auf den Pandaren. Ein blauschwarzer Blitz traf dessen gebückten Leib, und er stolperte, sodass Wein aus der goldenen Karaffe in seiner Hand schwappte. Daraufhin entfesselte der Mogu einen weiteren Blitz und dann noch einen, anschließend wandte er sich um.
„Ich bin ein schlechter Gastgeber. Ich enthalte dir dieses Vergnügen vor.“
Vol’jins Herz machte einen Satz bei dieser Einladung, den Pandaren zu foltern. Es ging nicht darum, zu beweisen, dass er einem gebrochenen Diener überlegen war. Nein, er wollte beweisen, dass er seinem Gastgeber ebenbürtig war und ebenso viel Schmerz verursachen konnte wie er. Sie waren wie Bogenschützen der Arkanen, die auf ein Ziel schossen, und jeder versuchte, der Mitte näher zu kommen als der andere. Was zählte, war nur der Wettstreit, nicht das Ziel.
Und um dieses Ziel wird ohnehin niemand trauern.
Glücklicherweise verschob sich das Geschehen, bevor Vol’jin herausfand, ob er Gefallen an diesem Sport finden würde oder nicht. Nun standen er und sein Gast auf der Spitze einer Pyramide, mitten in den Dschungeln, die dereinst als Schlingendorntal bekannt sein würden. Die Stadt, die sich vor ihnen ausbreitete, hatte eine weite Ebene unter Stein begraben, und ein Großteil dieser Baumaterialien war von weit her herangeschafft worden, aus allen Teilen der Welt, die die Trolle beherrschten. Diese Stadt war so alt, dass in Vol’jins Zeit keinerlei Spuren davon übrig waren, außer ein paar Steinblöcken, die erst für die eine Stadt, dann für die nächste herangezogen worden waren, bevor man sie klein geschlagen hatte, um Lücken in rankenübersäten Mauern zu füllen.
Vol’jin bemerkte einen Anflug von Geringschätzung bei seinem Gastgeber. Die Pyramide war als Aussichtspunkt nicht so beeindruckend wie die Bergspitze – nicht, dass sie je den Gipfel erreicht hätten –, aber Trolle brauchten keine Berge, um ihr Reich überblicken zu können. Wenn man mit den Loa kommunizieren konnte und mit ihren Visionen gesegnet war, dann verschwand der Drang nach physischer – sterblicher – Prahlerei. Auch hielten die Trolle sich keine Sklavenvölker, die sie als persönliche Bedienstete benutzten, denn welche Spezies war schon würdig genug, um einen Troll berühren zu dürfen? Ihre Gesellschaft war nach Kasten eingeteilt, und jede Kaste hatte ihre eigene Rolle und Aufgabe. Alles unter diesen Himmeln war geordnet.
Sie waren so, wie sie sein sollten, und die Loa bedauerten die Mogu, weil sie nicht verstanden, warum dies der richtige Weg, der Weg der Realität war.
Vol’jin versuchte, etwas von der Titanenmagie in seinem Gast aufzuspüren, aber es gelang ihm nicht. Vielleicht hatten die Mogu diese Magie noch nicht entdeckt. Vielleicht hatten sie sie erst spät im Lebenszyklus ihres Reiches benutzt, um die Saurok zu erschaffen. Vielleicht war der Donnerkönig wahnsinnig genug gewesen, um ihren Einsatz zu befehlen, vielleicht hatte ihr Einsatz ihn aber auch erst in den Wahnsinn getrieben. Doch das war wohl kaum von Belang.
Was von Belang war, war die Kluft zwischen Zandalari und Mogu. Darin lag der fruchtbare Boden für den Niedergang der Mogu. Der Hauch von Geringschätzung, den Vol’jin spürte, würde zu einer höflichen Gleichgültigkeit zwischen den beiden Völkern heranwachsen. Sie würden darauf vertrauen, dass der andere sie nicht angriff, weil sie glaubten, ihren Partner in einem solchen Fall mühelos vernichten zu können. Sie standen also weiterhin Rücken an Rücken, aber sie achteten nicht länger aufeinander, und so sah keiner von ihnen, wie der andere ins Wanken geriet.
Es war bemerkenswert, dass beide Gesellschaften stürzten. Die Sklaven, auf die die Mogu sich so viel einbildeten und von denen sie inzwischen abhängig waren, erhoben sich gegen ihre Herren und besiegten sie; die Kasten, welche die Zandalari an der Spitze der Pyramide versorgten, entwickelten sich zu eigenen Völkern. Obwohl sie dadurch geschwächt wurden, ließen die Zandalari diese Trolle bereitwillig ziehen – sie wandten sich von ihnen ab wie von unartigen Kindern, auf dass sie die Dummheit ihrer jugendlichen Rebellion erkannten und flehend zu ihnen zurückkehrten …
Flehend – um die Gunst der Zandalari.
Vol’jin erwachte mit einem Knurren in seiner Kammer, überrascht, dass er keine Maske trug. Stattdessen hatte sich der Faden eines Spinnennetzes über seine Augen gelegt. Das Versprechen von Schnee erfüllte die Luft, als er sich aufsetzte und einen Moment lang die Knie an den Körper zog. Anschließend schlüpfte er in seine Kleider und ging nach draußen. Er umrundete den Hof, wo die Mönche trainierten – jeder in eine Rüstung aus Seide oder Leder gekleidet –, und machte sich auf den Weg zum Berg.
Während Zandalari und Mogu keinen Grund gesehen hatten, zum Gipfel hinaufzuklettern, verlangte Vol’jins Herz danach, dass er die höchste Höhe erklomm, um zu entdecken, was ihnen ihre Bequemlichkeit vorenthalten hatte. Sie hatten sich eingeredet, dass sie die Spitze des Berges nicht erreichen mussten, und nach der Denkweise der Pandaren hatten sie sich dadurch selbst vorgegaukelt, dass sie bereits ein Gleichgewicht in ihrem Leben erreicht hätten.
Ihr Selbstbetrug war ihr Untergang gewesen.
Nach drei Vierteln des Weges stieß er auf Tyrathan. Der Mensch erwartete ihn bereits. „Du bist wirklich verdammt leise, selbst wenn du in Gedanken vertieft bist.“
„Aber du hast mich trotzdem näher komm’n gehört.“
„Ich habe so viel Zeit auf dem Berg verbracht, dass ich an die Geräusche hier gewöhnt bin. Ich habe dich nicht gehört – ich habe nur gehört, wie alles andere auf dich reagiert hat.“ Er lächelte. „Schlechte Nacht gehabt?“