Oder werden wir hier ewig im Moment unseres Todes gefang’n sein?
Schwester Quan-li, eine Pandaren mit leberfarbenen Flecken auf ihrem weißen Fell, deutete nach Südosten. „Die Eindringlinge werden vermutlich aus dieser Richtung kommen. Der Mogu-Palast liegt dort, und Taran Zhu sagte, dass die Kriegsfürsten genau südlich unserer Position begraben wurden.“
Tyrathan nickte. „Laut Protokollbuch werden die Zandalari einen Durchgang im Osten des Tals suchen. Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sie schon hier sind.“
Der Troll lachte. „Was sollten das denn für Anzeichen sein, mein Freund? Dass wir einen schwarz’n Fleck über der Landschaft sehen? Rauch, der von niedergebrannt’n Dörfern aufsteigt?“
„Nein. Aber zumindest sollte es provisorische Lager geben. Wir können hier warten, bis es dunkel ist, und hoffen, dass der Feind sich uns durch Lagerfeuer offenbart, oder …“
„Oder wir schleich’n uns runter und sehen uns um, für den Fall, dass sie auch auf Lagerfeuer verzichten.“ Vol’jin erhob sich. „Ich bin für Letzteres.“
„Bei Tageslicht finden Pfeile leichter ihr Ziel. Nicht dass es nachts unmöglich wäre, nur schwieriger.“
„Gut. Wir rücken zu diesem kleinen Plateau über der Straße vor. So bewahren wir den Höhenvorteil.“
Tyrathan deutete mit dem Ende seines Bogens. „Falls wir direkt nach Süden gehen und dann einen Haken zurück nach Osten schlagen, können wir vielleicht hinter ihre Marschlinie gelangen. Sie würden uns nicht in einem Bereich vermuten, den sie bereits gesichert haben. Davon abgesehen werden sie die Leute, die sie zur Erfüllung ihrer Mission brauchen, vermutlich nicht in die erste Reihe schicken. Sie werden weiter hinten gehen, wo sie sicher vor etwaigen Gefahren sind.“
„Ja. Find’n wir raus, wer sie sind, und töt’n wir sie.“
Chen warf ihm einen Blick aus schmalen Augen zu. „Und dann schleichen wir uns wieder davon.“
Troll und Mensch sahen einander kurz an, dann nickte Vol’jin. „Wenn möglich nach Süden und Westen. Demselben Weg folgend, auf dem wir gekomm’n sind.“
„Dann würden wir zumindest das Terrain kennen, und wir wüssten, wo wir Fallen aufstellen können.“ Tyrathan senkte seinen Bogen. „Wenn man bedenkt, dass wir sieben gegen die Elite von zwei Reichen antreten, ist das nicht der dümmste Plan, der uns hätte einfallen können.“
„Wohl wahr.“ Der Troll zog den Rucksack auf seinem Rücken zurecht. „Aber es ärgert mich, dass mir nichts Besseres einfällt.“
„Das muss es doch gar nicht, Vol’jin.“ Chen rückte ebenfalls die Riemen seines Rucksacks gerade. „Wir sind hier, um ihnen ein Stich zu versetzen, und dafür sollte dieser Plan vollauf genügen.“
22
Obwohl sie durch ein goldenes Tal streiften, das seit unzähligen Jahren kaum ein Außenstehender betreten hatte, empfand Vol’jin keine Furcht. Er wusste, dass er eigentlich angespannt sein sollte, und er traf ganz bewusst alle Vorkehrungen, um nicht entdeckt zu werden. Doch er spürte keinen Schauder über sein Rückgrat kriechen, und das Fell in seinem Nacken stellte sich nicht auf. Es war, als würde er eine Rush’kah-Maske tragen, an der alle Angst abperlte.
Doch er wusste, dass es etwas völlig anderes war. Er träumte nicht, als sie im Tal der Ewigen Blüten schliefen weil er keine Träume brauchte. Durch dieses Tal zu schreiten war, als würde er sich durch eine lebendige Vision bewegen. Die Realität an diesem Ort war anders, und sie beeinflusste ihn. Er spürte eine Arroganz, die teilweise aus seinem Trollerbe geboren war, und der Geist des Mogu-Reiches streichelte ihn, wann immer er das nachklingende Echo der Mogu-Magie berührte.
Hier, an diesem Ort, wo große Völker große Macht errungen hatten, gab es für ihn keine Furcht. Drüben, auf den weit entfernten Stufen des Mogu’shan-Palastes, wo seine Feinde vermutlich gerade in ihrem Lager schliefen, hatten stolze Mogu-Väter einst die Köpfe ihrer Söhne nach Westen gedreht und ausholende Handbewegungen gemacht, die das gesamte Tal umfassten. Sie hatten ihnen gesagt, dass all dieses Land ihnen gehörte und das Land, das daran anschloss, ebenfalls. Dass sie damit tun konnten, was immer ihnen beliebte, dass sie dort ihre Herzenswünsche verwirklichen könnten. Es gab dort nichts, was ihnen gefährlich werden könnte, denn jeder und alles in diesem Land fürchtete die Mogu.
Es war dieser letzte Gedanke, der Vol’jin von dem Bann befreite. Er wusste, was es hieß, gefürchtet zu werden, und es gefiel ihm, das seine Gegner Angst vor ihm hatten, aber diese Furcht war aus seinen Taten geboren. Er hatte sie sich verdient, Schwerthieb um Schwerthieb, Zauber um Zauber, Sieg um Sieg. Er hatte sie nicht geerbt, und er sah sie auch nicht als sein Geburtsrecht an.
Dieses Verständnis unterschied ihn von den jungen Mogu-Prinzen, die von den Stufen auf ihr Reich hinausgeblickt hatten. Denn er verstand die Furcht und konnte sie nutzen. Er spürte ihren Fluss, spürte Ebbe und Flut der Angst. Doch sie standen darüber, sahen und hörten nur, was sie sehen und hören wollten. Und nie fühlten sie das Bedürfnis, zu den höchsten Höhen hinaufzuklettern, um zu sehen, wie die Welt wirklich aussah.
Als sie an dem Tag, nachdem sie die Hälfte des Tals durchquert hatten, ihr Lager aufschlugen, blickte Tyrathan ihn an. „Du spürst es, oder?“
Vol’jin nickte.
Chen sah von seiner Teeschale auf. „Was spürst du?“
Der Mensch lächelte. „Das beantwortet meine Frage.“
Der Pandaren schüttelte den Kopf. „Was für eine Frage? Was spürst du?“
Tyrathan zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Gefühl, dass dieser Ort mir gehört, dass ich hierher gehöre, weil das Land in Blut getränkt ist und ich schon so viel Tod gesät habe. Ist das auch das, was du fühlst, Vol’jin?“
„So ungefähr.“
Chen lächelte und goss sich Tee ein. „Oh, das.“
Der Mann runzelte die Stirn. „Dann spürst du es auch?“
„Nein, aber ich weiß, dass ihr es spürt.“ Der Braumeister blickte sie beide an und zuckte mit den Schultern. „Ich habe diesen Ausdruck in euren Augen schon früher gesehen. Bei dir, Vol’jin, ist er stärker als bei Tyrathan, aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich noch nicht so oft an seiner Seite gekämpft habe wie an deiner. In jeder Schlacht, an dem Punkt, wenn du am verbissensten kämpfst, tritt dieser Ausdruck auf dein Gesicht. Er ist hart, unerbittlich. Wann immer ich ihn sehe, weiß ich, du wirst gewinnen. Dieser Ausdruck sagt mir, dass du an diesem Tag der beste Krieger auf dem Schlachtfeld bist und dass jeder, der dich herausfordert, sterben wird.“
Der Troll legte den Kopf auf die Seite. „Und diesen Ausdruck habe ich jetzt auch?“
„Nun, nicht wirklich. Ein wenig um die Augen. Ihr habt ihn beide, aber nur wenn ihr glaubt, dass niemand euch beobachtet. Oder wenn ihr nicht bemerkt, dass jemand euch beobachtet. Dieses Gefühl sagt euch, dass das hier euer Land ist, dass ihr es rechtmäßig gewonnen habt und es nicht wieder aufgeben werdet.“ Chen zuckte mit den Schultern. „Angesichts unserer Mission ist das wohl etwas Gutes.“
Der Mensch hielt dem Pandaren seine Tasse hin und nickte, als sie wieder gefüllt war. „Und was fühlst du hier?“
Chen setzte den Trinkschlauch ab und kratzte sich am Kinn. „Ich fühle das Versprechen von Frieden an diesem Ort. Ich denke, ihr beide spürt eher das Erbe der Mogu, aber für mich ist es der Friede, das Versprechen davon. Alles, was ich mir von einem Zuhause wünsche. Das Tal sagt mir, dass ich aufhören kann umherzuwandern – aber ich muss nicht. Ich bin hier willkommen, ganz gleich, wofür ich mich entscheide.“
Er blickte die beiden an, und zum ersten Mal, seit Vol’jin ihn kannte, füllten sich die großen goldenen Augen des Pandaren mit Bedauern. „Ich wünschte, ihr könntet es auch fühlen.“