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»Wie ich hörte, warst du zu Pferde.«

»Ich kam auf dem Uferweg zu den Toren der Abtei gegenüber dem Kai am Fluß zurück. Unsere Stallungen sind gleich dahinter.«

»Ich kenne den Ort«, versicherte ihr Fidelma.

»Ich ritt den Weg entlang .«

»Schien der Mond?«

Die Äbtissin überlegte einen Moment. »Ich glaube nicht. Nein, es war eine dunkle Nacht, der Himmel bewölkt. Ich wollte ins Tor einbiegen, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte.«

»Was war das?« drängte sie Fidelma, als sie schwieg.

»Nach meiner Erinnerung war es ein Laut in der Nähe eines Haufens von Ballen und Kisten, der aus einem an jenem Tag angekommenen Schiff ausgeladen worden war.«

»Ein Laut?«

»So genau weiß ich es nicht. Aber etwas weckte meine Aufmerksamkeit, und ich lenkte mein Pferd näher heran. Da sah ich die zusammengekrümmte Leiche.«

»Es war aber bewölkt und dunkel. Du hattest keine Fackel. Wie konntest du unter diesen Umständen erkennen, daß es eine Leiche war?«

Äbtissin Fainder dachte nach.

»Das weiß ich nicht mehr. Von irgendwoher muß Licht gekommen sein. Ich weiß nur noch, daß ich eine liegende Gestalt sah und mir klar war, daß es sich um eine Leiche handelte. Vielleicht brach der Mond einen Moment durch die Wolken. Ich weiß es nicht mehr.«

»Was dann?«

»Ich hielt kurz an, und da kam Mel, der Hauptmann der Wache, aus der Dunkelheit. Ich erkannte ihn nicht sofort und rief ihn an, wer er sei. Als er sich als Mel zu erkennen gab, bat ich ihn, die Leiche zu untersuchen. Er tat es und erklärte mir, es sei ein junges Mädchen und es sei tot. Ich wies ihn an, die Leiche in die Abtei zu bringen, und ging hinein, um Bruder Miach, unseren Arzt, zu wecken.«

»Ich verstehe. Und Mel trug die Leiche hinein?« »Ja.«

»Er allein?«

»Nein, Mel und einer seiner Kameraden.«

»Weißt du dessen Namen?«

»Er hieß Daig«, antwortete sie kurz.

»Als die Leiche aufgebahrt wurde, hast du sie wohl als eine eurer jungen Novizinnen erkannt?«

»Keineswegs. Ich hatte sie noch nie gesehen. Es war das Mädchen, das man auch hereingebracht hatte, Fial mit Namen, das den Überfall durch deinen angelsächsischen Freund beobachtet hatte; sie identifizierte die Tote«, erklärte die Äbtissin giftig.

»Vor jener Nacht hattest du keins der beiden Mädchen je gesehen. Ist das nicht eigenartig?«

»Daran ist nichts Ungewöhnliches, denn wie ich schon sagte, ich begrüße nicht alle Novizinnen.«

»Du hörtest also von Fial, daß sie anscheinend die Vergewaltigung und Ermordung ihrer Gefährtin beobachtet hatte?«

»Inzwischen war Schwester Etromma geholt worden, und sie führte uns dahin, wo der Angelsachse so tat, als ob er schliefe. Er wurde aus dem Bett gezogen, hatte Blut an seiner Kleidung, und wir fanden bei ihm ein abgerissenes Stück der Kutte des toten Mädchens.«

Fidelma rieb sich die Nase mit ihrem schlanken Zeigefinger. Sie hatte die Brauen nachdenklich zusammengezogen.

»Kam dir das nicht merkwürdig vor?«

»Wieso?« fragte die Äbtissin unwirsch.

»Daß bei einem solchen Verbrechen der Täter dem Opfer ein Stück Kleidung abriß und es als belastendes Beweismaterial mit in sein Bett nahm? Und daß er nicht versuchte, seine eigene Kleidung vom Blut zu reinigen - ist das nicht seltsam?«

Äbtissin Fainder zuckte die Achseln. »Es ist nicht meine Aufgabe, den Regungen eines krankhaften Gemüts nachzugehen. Manche Menschen benehmen sich sonderbar, das mußt du doch wissen. Eine Erklärung bestünde darin, daß dein angelsächsischer Freund keine Zeit dazu fand, weil er gemerkt hatte, daß man Alarm schlug. Er hoffte einfach, er würde nicht auffallen.«

»Das könnte wohl sein, aber ich bin nicht der Meinung, daß es nicht unsere Aufgabe ist, den Regungen krankhafter Gemüter nachzugehen. Sind wir nicht dazu da, Mutter Äbtissin, durch unser Verständnis den Kranken und Leidenden Trost und Hilfe zu spenden?«

»Wir sind nicht dazu da, Entschuldigungen für die Übelgesinnten zu suchen, Schwester. >Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.< Du kennst doch das Wort aus dem Brief des Paulus an die Galater?«

»Es gibt einen feinen Unterschied zwischen dem Erforschen von Ursachen und dem Suchen nach Entschuldigungen.« Fidelma wandte sich rasch zur Tür, blickte aber noch einmal zurück. »Ich kam auch, um dir zu sagen, Äbtissin Fainder, daß ich Berufung gegen das Urteil einlegen werde aufgrund des Beweismaterials, das ich bisher gesammelt habe.«

Einen Moment schien Äbtissin Fainder erschrocken.

»Heißt das, du hast Gründe für eine Berufung zugunsten des Angelsachsen?« wollte sie wissen.

In diesem Moment flog die Tür auf, und Coba kam ohne Anklopfen herein.

In beherrschtem Zorn erhob sich Äbtissin Fainder. »Vergißt du denn deine Manieren ganz und gar, daß du in mein Zimmer stürmst, ohne anzuklopfen«, sagte sie eisig. »Ich bin ...«

»Ich komme, um dich zu warnen«, unterbrach er sie mit ironischem Unterton.

»Mich zu warnen?« Äbtissin Fainder war verblüfft.

»Der König kommt auf die Abtei zu«, erklärte ihr der bo-aire. »Sein Brehon, Bischof Forbassach, ist bei ihm.«

»Das erspart mir den Gang zur Burg des Königs«, lächelte Fidelma. »Dann kann ich gleich meine Berufung für Bruder Eadulf einlegen.«

»Das ist eine gute Nachricht«, rief Coba begeistert. »Noch besser wäre es, wenn du den Wahnsinn unterbinden könntest, der in diesem Königreich eingerissen ist. Wir müssen diese Bußgesetze beseitigen, bevor sie unser ganzes Rechtssystem verdrängen.«

Die Äbtissin beruhigte sich plötzlich, setzte sich wieder und langte nach ihrer Handglocke, um ihre Verwalterin zu rufen.

»Fianamail kommt also her? Dann werden er und Forbassach vielleicht diesem Unsinn ein Ende bereiten. Das Leben in unserer Abtei ist genug gestört worden. Wir werden den König und seinen Brehon in aller Form in der Kapelle empfangen.« Sie warf Fidelma einen feindseligen Blick zu. »Dann werden wir ja sehen, wie weit du mit deiner Berufung kommst, Schwester.«

Es war Coba, der die Äbtissin anredete.

»Selbst zu diesem späten Zeitpunkt könntest du deine Stimme für die Gnade erheben und Gehör finden. Kehre zu den Gesetzen dieses Landes zurück!«

»Bisher habe ich noch keinen Grund vernommen, weshalb ich meine Meinung ändern sollte, weder in diesem besonderen Fall noch allgemein in den Grundsätzen der Bestrafung«, entgegnete die Äbtissin aufgebracht.

»Haben meine Argumente dich nicht bewegt, noch einmal darüber nachzudenken, wieviel wirksamer die Anwendung von Schadenersatz und Wiedergutmachung zur Schaffung einer moralischen Gesellschaft beiträgt als die Verbreitung von Furcht?«

»Wir wollen eine gehorsame Gesellschaft schaffen«, fauchte Äbtissin Fainder. »Nein, sie haben mich nicht dazu bewegt. Wenn ein Kind stiehlt, dann wird es bestraft, und die Furcht vor Strafe erzeugt Gehorsam.«

Coba unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, seine Philosophie zu erläutern.

»Bleiben wir bei dem Beispiel des Kindes. Wie viele haben gesagt, daß ihr Kind stiehlt? >Wir haben dem Kind erklärt, daß es böse ist zu stehlen, und wir haben es geschlagen, wenn es stahl. Trotzdem stiehlt es weiter. Wie kommt das?< Die Antwort hängt von dem einzelnen Kind ab. Manche werden durch eine Strafe oder die Drohung mit Strafe zum Gehorsam gebracht, aber nicht alle. In Wirklichkeit führt körperliche Bestrafung oft dazu, daß sich der Wunsch verstärkt, an der Autoritätsperson Rache zu üben oder an der Gesellschaft, für die diese Person steht. Das kann noch größere Gewalt hervorrufen, statt sie zu verhindern.«

»Wenn man gar nichts tut, dann wächst die Gewalt«, höhnte die Äbtissin. »Du bist ein alter Trottel, Coba.«

»Unsere Gesetze bemühen sich, das Problem der Denkweise von Übeltätern zu lösen. Die beste Methode der Besserung besteht darin, daß man dem Kind klarmacht, welchen Schmerz der Diebstahl einem anderen bereitet, indem man dem Kind jedesmal, wenn es etwas stiehlt, etwas wegnimmt, was ihm gehört. Die meisten Kinder reagieren darauf eher als auf Schläge oder körperliche Schmerzen. Damit besitzen wir ein Rechtssystem, durch das das ungezogene Kind etwas lernt. Wenn es überhaupt Mitgefühl empfinden kann, dann versteht es, welchen Schmerz es zugefügt hat, und ändert sich vielleicht.«