»Ich kann mich jetzt nicht mit dir über diesen Unsinn streiten, Coba. Deine Gesetze und ihre Strafen haben versagt, sonst würden wir in einer Gesellschaft ohne alle Verbrechen leben.«
Fidelma verspürte das Bedürfnis, sich in die Auseinandersetzung einzuschalten.
»Jeder Gesetzesbruch ist im Endeffekt die Schädigung eines anderen Menschen, und wenn jemand dazu gebracht wird, diese Schädigung einzusehen, dann ist seine Seele gerettet. Wenn er auf diese Weise rehabilitiert wird, kann er weiter ein lohnendes Leben führen. So wird das Gesetz zu einem Instrument moralischer Besserung, indem es sowohl eine heilende Strafe verhängt als auch eine entschädigende und vorbeugende.«
Coba nickte zustimmend bei dieser Erklärung.
Äbtissin Fainder sah sie beide mit spöttischer Miene an.
»Ihr könnt mich nicht dazu überreden, meine Mei-nung zu ändern. Der Angelsachse ist verurteilt, und morgen wird er für das Verbrechen, das er begangen hat, gehängt. Und jetzt wollen wir den König begrüßen.«
Kapitel 8
Es war am späten Abend, als schließlich das Berufungsgericht in der großen Halle der Burg Fianamails von Laigin zusammentrat. Bei der Begegnung in der Kapelle der Abtei hatte Fidelma viel Energie aufwenden müssen, um Fianamail und seinen Brehon, Bischof Forbassach, dazu zu bringen, die Anhörung abzuhalten. Bischof Forbassach und Äbtissin Fainder hatten sich heftig gegen eine solche Anhörung ausgesprochen, doch Fidelma hatte darauf hingewiesen, daß der junge König ihr sein Wort gegeben hatte, im Falle des Auftauchens juristischer Einwände gegen den Verlauf der Gerichtsverhandlung - abgesehen von allgemeinen Einwänden gegen die Anwendung der Bußgesetze - würde er die Prüfung dieser Einwände anordnen. Bischof Forbassach wollte sofort wissen, was für Einwände das wären, doch Fidelma erklärte ihm, daß diese Beweismittel nur bei einer förmlichen Anhörung vorzulegen seien.
Widerstrebend hatte Fianamail eingesehen, daß er sein Versprechen halten mußte. Die Abtei war offensichtlich nicht der geeignete Ort für die Berufungsverhandlung, weil mehrere Schreiber und Gerichtsbeamte herbeigerufen werden mußten. In so kurzer Frist war das nur in der großen Halle der Burg möglich.
Die Halle wurde von flackernden Fackeln erhellt, die in eisernen Haltern an den Wänden standen, und von einem Feuer in der Mitte erwärmt. Fianamail saß auf dem Podium in seinem Amtssessel aus geschnitztem Eichenholz. Zu seiner Rechten hatte Bischof For-bassach, der Brehon von Laigin, seinen Platz.
Äbtissin Fainder wohnte der Verhandlung bei und hatte zu ihrer Unterstützung ihre Verwalterin, Schwester Etromma, und - was Fidelma merkwürdig vorkam - den gräßlich aussehenden Bruder Cett mitgebracht. Bruder Miach begleitete sie ebenfalls. Mehrere Mönche, Nonnen, Schreiber und Angehörige der Hofhaltung des Königs waren anwesend wie auch Krieger, unter ihnen Mel. Inmitten anderer Zuschauer entdeckte Fidelma Coba, den Ortsfürsten, der so heftig gegen die Einführung der Bußgesetze auftrat. Dego und Enda saßen im Hintergrund und beobachteten das Verfahren.
Es war kein Gerichtshof im eigentlichen Sinne, denn bei einer Berufung zur Aufschiebung der Vollstreckung eines Urteils brauchte der Angeklagte nicht anwesend zu sein, es gab keinen Vertreter der Anklage, und gewöhnlich wurden auch keine Zeugen vernommen. Alles hing von der Fähigkeit des dalaigh ab, das Verfahren der Beweisaufnahme beim vorhergehenden Prozeß in Zweifel zu ziehen oder die unangemessene Härte des Urteils in Frage zu stellen.
Fidelma hatte ihren Platz vor dem Podium eingenommen. Ruhe trat ein, als Bischof Forbassach sich erhob und die Versammlung zur Ordnung rief.
»Wir sind hier, um das Plädoyer der dalaigh von Cashel anzuhören. Du kannst beginnen«, erklärte er Fidelma und setzte sich wieder.
Zögernd stand Fidelma auf. Mit wachsendem Erstaunen hatte sie bemerkt, daß Forbassach offensichtlich den Vorsitz bei der Verhandlung führte.
»Habe ich das so zu verstehen, daß du den Vorsitz bei dieser Anhörung führst, Forbassach?« fragte sie.
Bischof Forbassach starrte seine alte Gegnerin mit eisigem Blick an. Er war ein unversöhnlicher Charakter, und sie spürte, daß er sich über ihre Verwirrung freute.
»Das ist ein merkwürdiger Beginn eines Plädoyers, Fidelma. Muß ich eine solche Frage beantworten?«
»Die Tatsache, daß du die Verhandlung gegen Bruder Eadulf geleitet hast, schließt doch wohl aus, daß du dein eigenes Verhalten bei dieser Verhandlung beurteilst.«
»Wer besitzt denn eine größere juristische Autorität in diesem Königreich als Bischof Forbassach?« schaltete sich Fianamail gereizt ein. »Ein Richter niederen Ranges hat kein Recht, ihn zu kritisieren. Das solltest du doch wissen.«
Fidelma mußte zugeben, daß das stimmte und sie es übersehen hatte. Nur ein Richter von höherem oder gleichem Rang konnte das Urteil eines anderen Richters aufheben. Doch wenn Forbassach in diesem Fall urteilte, wäre das eine weitere Ungerechtigkeit.
»Ich hatte gehofft, Forbassach hätte den Rat anderer Richter eingeholt. Ich sehe hier nur Forbassach sitzen und nicht einmal einen ausgebildeten dalaigh, der mit ihm das Beweismaterial beurteilen könnte. Wie kann ein Richter über seine eigenen Urteile befinden?«
»Ich werde deine Einwände berücksichtigen, Fidelma, wenn du sie zu Protokoll geben willst.« Bischof Forbassach lächelte triumphierend. »Jedoch kann ich als Brehon von Laigin niemand anderem das Recht zubilligen, den Vorsitz in diesem Gerichtshof zu führen. Sollte ich davon zurücktreten, könnte man behaupten, daß ich damit zugäbe, in diesem Fall befangen zu sein. Solche Einwände von dir werden abgelehnt. Nun möchte ich dein Plädoyer hören.«
Fidelmas Mund wurde schmal, und sie blickte hinüber zu Dego, der als verwirrter Zuhörer im Hintergrund saß. Er fing ihren Blick auf und verzog tröstend das Gesicht. Ihr war nun klar, daß man schon voreingenommen gegen sie war, noch ehe sie ihr Plädoyer begonnen hatte. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als so gut zu argumentieren, wie sie nur konnte.
»Brehon von Laigin, ich lege bei dir förmliche Berufung ein mit dem Ziel, die Hinrichtung Bruder Ea-dulfs, des Angelsachsen, aufzuschieben, bis eine ordentliche Untersuchung und eine neue Verhandlung stattgefunden haben.«
Forbassach betrachtete sie mit unverändert säuerlicher Miene. Fidelma kam seine Haltung beinahe verächtlich vor.
»Eine Berufung muß sich auf Beweise stützen, daß es bei der ersten Verhandlung Unregelmäßigkeiten gegeben habe, Fidelma von Cashel«, bemerkte Forbas-sach trocken. »Wie begründest du deine Berufung?«
»Es gab verschiedene Unregelmäßigkeiten bei der Vorlage der Beweise im Laufe der Verhandlung.«
Forbassachs Miene wurde noch unangenehmer.
»Unregelmäßigkeiten? Zweifellos unterstellst du, daß solche Unregelmäßigkeiten darauf zurückzuführen sind, daß ich den Vorsitz bei der Verhandlung führte?«
»Ich weiß sehr wohl, daß du den Vorsitz bei der Verhandlung führtest, Forbassach. Ich habe bereits meinen Einwand dagegen erhoben, daß du dein eigenes Verhalten beurteilst.«
»Was wirfst du mir also vor? Was genau?« Sein Ton war kalt und drohend.
»Ich werfe dir überhaupt nichts vor, Forbassach. Du solltest dich im Recht genügend auskennen, um meine Worte nicht falsch zu interpretieren«, fauchte Fidelma. »Eine Berufung besteht lediglich darin, dem Gericht Tatsachen vorzulegen und Fragen zu stellen. Die Antworten hat das Gericht zu suchen.«