Fianamail zögerte, verärgert über diesen Zwischenfall, und verließ dann mit finsterer Miene den Saal. Bischof Forbassach blieb einen Moment unentschlossen stehen, dann trat die Äbtissin zu ihm. Triumphierend wandte er sich ihr zu, und gemeinsam gingen sie hinaus. Als auch die anderen sich zerstreuten, kam Dego zu Fidelma und legte ihr mit verlegen-tröstender Geste die Hand auf die Schulter.
»Du hast dein Bestes getan, Lady«, murmelte er. »Sie sind darauf aus, daß Bruder Eadulf sterben soll.«
Fidelma hob den Kopf, spürte, daß ihr Tränen in die Augen traten, und schämte sich ihrer nicht.
»Dego, ich weiß nicht, was ich noch legal tun kann, um ihn zu retten. Es bleibt keine Zeit.«
»Aber sie verkünden das Urteil erst morgen. Es besteht noch Hoffnung, daß sie für deine Berufung entscheiden.« Überzeugt klang er nicht.
»Du hast gehört, wie Brehon Forbassach mich abfahren ließ. Nein, er wird bei dem Urteil bleiben, das er einmal gesprochen hat.«
Widerwillig stimmte ihr Dego zu. »Da hast du recht, Lady. Bischof Forbassach hat seine Voreingenommenheit deutlich gezeigt. Hast du gesehen, wie er mit der Äbtissin Fainder wegging und beide lächelten und er ihre Hand hielt? Die stecken unter einer Decke.«
»Uns bleibt nur noch die Hoffnung, daß der Oberrichter von Irland, Barran, selbst herkommt und dieser üblen Ungerechtigkeit Einhalt gebietet«, meinte Fidelma.
Dego schüttelte traurig den Kopf. »Dann gibt es keine Hoffnung, Lady. Aidan braucht noch mindestens drei Tage, um Barran zu suchen und herzubringen, vielleicht sogar eine ganze Woche, und Glück muß er auch noch haben.«
Fidelma erhob sich und bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen.
»Ich muß zur Abtei und Eadulf sagen, er solle sich auf das Schlimmste gefaßt machen.«
»Wäre es nicht besser, du wartest, bis morgen früh die Entscheidung formell verkündet wird?«
»Ich kann mir nichts vormachen, Dego, und Eadulf kann ich auch nichts vormachen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, Dego, aber vielen Dank. Das ist etwas, was ich am besten allein tue. Ich glaube, Eadulf sähe morgen gern ein paar freundliche Gesichter, wenn das Schreckliche geschieht. Wenigstens kann er im Beisein von Freunden sterben und nicht nur unter Feinden. Ich werde um die Erlaubnis bitten, dabeisein zu dürfen, sobald das Urteil gefällt ist. Werdet ihr, Enda und du, mich begleiten?«
Dego zögerte keinen Moment.
»Natürlich. Gott vergebe ihnen, wenn sie deine Berufung tatsächlich verwerfen, Lady. Ich habe manchen tapferen Mann in der Schlacht sterben sehen, und ich habe auch selbst viele getötet. Aber in der Kampfeswut, mit heißem Blut, Männer, die frei waren und mit Schwert und Lanze in der Hand, die sich verteidigten, im Kampf Mann gegen Mann, unter Gleichen. Doch das hier ... das ist eine üble Sache, einem Menschen nur noch die Würde eines armen Kalbs im Schlachthaus zu lassen. Dafür muß man sich schämen.«
»Das ist nicht unsere Art der Bestrafung«, pflichtete ihm Fidelma bei. Dann seufzte sie tief. »Man kann wahrscheinlich der Meinung sein, daß jemand, der einen Mord begeht, einem anderen Menschen Leid und Tod zufügt, nicht unser Mitgefühl verdient, aber .«
»Das ist noch kein Grund, daß wir auf die Stufe des Mörders hinabsteigen und unseren Mord mit kaltblütigen Ritualen verhüllen«, unterbrach sie Dego. »Und du meinst doch sicher nicht, daß du jetzt Bruder Eadulf dieses Verbrechens für schuldig hältst?«
Fidelma kämpfte mit ihren Gefühlen und schüttelte rasch den Kopf. Sie hoffte, daß ihre Augen nicht zu sehr glänzten.
»Ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob Eadulf schuldig ist oder nicht. Ich glaube, daß er unschuldig ist. Ich vertraue seinem Wort. Aber Worte genügen dem Gesetz nicht. Nach meinem Wissen kann ich nur sagen, daß es zu viele Fragen gibt, die hätten beantwortet werden müssen, und jetzt . jetzt scheint es zu spät dazu zu sein. Geh ins Gasthaus zurück, Dego. Ich werde dich und Enda bald dort treffen.«
Langsam schritt sie durch die Stadt auf die Abtei zu, von düsteren Gedanken bedrückt. Sie wußte nicht, was sie Eadulf sagen sollte. Es konnte nur die Wahrheit sein. Sie hatte das Gefühl, völlig versagt zu haben. Sie zweifelte nicht daran, daß Bischof Forbassach trotz Fianamails Versuch, sich diplomatisch zu geben, die Berufung ablehnen werde. Die herausfordernde Art, in der er auf alle ihre Fragen reagiert hatte, zeigte deutlich, daß er darauf aus war, den Forderungen der Äbtissin Fainder nach Anwendung dieser grausamen neuen Strafen nachzukommen.
Wenn sie nur mehr Zeit hätte! Die Beweise enthielten zu viele unglaubwürdige Stellen. Doch Bischof Forbassach gab sich anscheinend keine Mühe, dem nachzugehen. Zeit! Darauf lief alles hinaus. Und wenn morgen die Sonne im Zenit stand, sollte das Leben ihres guten Freundes und Gefährten ausgelöscht werden, weil sie keinen Erfolg gehabt hatte.
Während sie sich den Toren der Abtei näherte, war sie entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie die Zuversicht verloren hatte. Schließlich konnte schon irgendein kleiner Zufall eine Verzögerung bewirken. Trotzig hob sie das Kinn.
Als Schwester Etromma das Tor öffnete, sah sie seltsam ängstlich aus. Sie hatte die Halle des Königs verlassen und war in die Abtei zurückgeeilt, sobald Bischof Forbassach seine Meinung verkündet hatte.
»Es tut mir leid, Schwester. Ich konnte nur die Wahrheit sagen. Du standest wirklich mit dem Rük-ken zu mir, als du diese Gegenstände fandest, und ich konnte nicht schwören, ich habe gesehen, wie du sie aus dem Versteck holtest. Bischof Forbassach stellte so scharfe Fragen .«
Mit einer Handbewegung beruhigte Fidelma die besorgte Verwalterin. Sie gab ihr keine Schuld. Hätte sie Fidelma unterstützt, hätte Bischof Forbassach zweifellos einen anderen Weg gefunden, die Beweisstücke zurückzuweisen.
»Es war nicht dein Fehler, Schwester. Außerdem ist ja noch keine Entscheidung verkündet worden«, antwortete Fidelma in möglichst gleichmütigem Ton.
Schwester Etromma schaute nicht weniger bestürzt drein.
»Aber du weißt doch sicher, daß das Urteil längst feststeht?« fragte sie. »Bischof Forbassach hat es selbst gesagt.«
Fidelma bemühte sich, zuversichtlich zu erscheinen.
»Es liegt jetzt am König und seinen Ratgebern. Trotz Forbassach behaupte ich weiterhin, daß es Fragen gibt, die gestellt werden müssen, und jeder unvoreingenommene Richter weiß, daß man ohne Antworten auf diese Fragen einem Menschen nicht das Leben nehmen kann.«
Schwester Etromma senkte den Kopf. »Das ist wohl so. Glaubst du wirklich, daß die Hinrichtung des Angelsachsen noch verschoben wird?«
Fidelmas Stimme war angespannt. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Ich hoffe es. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Richters vorauszusagen.«
»Ja, eben«, murmelte die Verwalterin. »Das ist hier kein glücklicher Ort mehr. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich auf die Insel Mannanan Mac Lir zurückziehen und die Sorgen dieser Abtei hinter mir lassen kann. Doch ich nehme an, du willst den Angelsachsen sprechen?«
»Ja.«
Sie wandte sich um und ging wieder voran durch die Abtei und in den Haupthof. Die Sonne stand schon tief, und die Abtei lag im Dämmerlicht. Der Hof wurde aber von vielen Fackeln erhellt. Zwei Männer holten den Leichnam Bruder Ibars vom Galgen herunter, während zwei andere, darunter ein Mönch, ihnen zusahen. Sie schauten von ihrer grausigen Arbeit auf, und einer grinste sie an.
»Wir schaffen Platz für morgen«, rief er ihr zu. Es war ein Mann mit groben Zügen in Arbeitskleidung. In der Nähe hatte man Sackleinen auf den Steinplatten ausgebreitet als Unterlage für den Leichnam. Kein Holzsarg stand für Bruder Ibar bereit, stellte Fidelma fest, nur Sackleinwand und wahrscheinlich eine rasch ausgehobene Grube in dem Bruch am Flußufer. Die beiden schwarzgekleideten Arbeiter erinnerten sie eher an Raben mit den Knochen ihres Opfers denn an Leichenbestatter bei ihrer Tätigkeit.