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Eadulf war in dieser Nacht nicht zu Bett gegangen. Da er wußte, daß dies wahrscheinlich seine letzte Nacht auf Erden sein werde, erschien ihm der Gedanke an Schlaf einigermaßen sinnlos. Er saß auf dem Bett, dem einzigen bequemen Platz in der Zelle, und starrte durch die Gitter des Fensters auf das kleine Stück nachtblauen Himmel. Er versuchte seine herumirrenden, von Panik erfaßten Gedanken in einen klaren Zusammenhang zu bringen, doch sie rebellierten dagegen. Es stimmte nicht, was die Weisen behaupteten, daß ein unmittelbar vom Tode bedrohter Mensch sich stärker konzentrieren könne. Seine Gedanken fuhren hierhin und dorthin. Sie sprangen in seine Kindheit zurück, zu der Begegnung mit Fidelma in Whitby und später noch einmal in Rom und danach zu seiner Reise ins Königreich Muman. Sein Gemüt erging sich in Erinnerungen, bittersüßen Erinnerungen.

Das Geräusch war gedämpft. Ein Knurren. Ein schwerer Fall. Er stand auf und blickte zur Tür, da wurden die Riegel zurückgeschoben.

Eine dunkle Gestalt stand im Türrahmen. Sie trug eine Mönchskutte.

»Es ... es kann doch noch nicht Zeit sein«, protestierte Eadulf entsetzt. »Es dämmert ja nicht einmal.«

Die Gestalt winkte ihm in der Dunkelheit. »Komm«, flüsterte sie dringend.

»Was ist los?« Eadulfs Ton war abweisend.

»Komm und rede nicht«, beharrte die Gestalt.

Widerwillig schritt Eadulf zur Tür.

»Du darfst auf keinen Fall etwas sagen. Folge uns einfach«, befahl die verhüllte Gestalt. »Wir sind hier, um dir zu helfen.«

Er merkte, daß zwei weitere Männer im Gang standen. Einer hielt eine Kerze. Der andere schleppte die reglose Gestalt Bruder Cetts in die Zelle, die Eadulf verließ. Dessen Herz schlug schneller, als er begriff, was sich da abspielte.

Rasch ging er zu ihnen, sein Widerstand erlosch. Die Zellentür wurde geschlossen und verriegelt.

»Zieh die Kapuze über, Bruder«, flüsterte eine der vermummten Gestalten. »Und den Kopf runter.«

Er gehorchte sofort.

Die kleine Schar marschierte rasch den Gang entlang und die Treppe hinunter. Eadulf folgte ihnen bereitwillig durch ein Wirrwarr von Gängen. Sie wurden von niemandem gehindert, und dann waren sie plötzlich durch das Ufertor und außerhalb der Mauern der Abtei. Dort hielt ein anderer Mann die Zügel mehrerer Pferde. Wortlos half der Anführer Eadulf in den Sattel, und die anderen saßen zugleich auf. Dann trabten sie alle an dem im Mondlicht silbern glänzenden Fluß entlang und ließen die Tore der Abtei rasch hinter sich.

Sie erreichten eine Baumgruppe, und der Anführer ließ sie halten. Lauschend hob er den Kopf.

»Nichts von Verfolgern zu hören«, murmelte er. »Aber wir müssen wachsam sein. Von jetzt an reiten wir schneller.«

»Wer seid ihr?« fragte Eadulf. »Ist Fidelma unter euch?«

»Fidelma? Die dalaigh aus Cashel?« Der Sprecher lachte leise. »Spar dir deine Fragen noch eine Weile, Angelsachse. Kannst du mithalten, wenn wir zum Galopp übergehen?«

»Ich kann reiten«, erwiderte Eadulf steif, weiter rätselnd, wer diese Männer waren, wenn Fidelma sie nicht geschickt hatte.

»Dann los, wir reiten!«

Der Anführer stieß seinem Pferd die Hacken in die Weichen, und das Tier schoß vorwärts. Die anderen Pferde setzten sofort nach. Eadulf spürte den ermunternden Hauch des kalten Nachtwinds auf den Wangen, der ihm die Kapuze aus dem Gesicht warf und das Haar zerzauste. Zum erstenmal seit Wochen verspürte er Leichtigkeit und Erregung. Er war frei, und nur die Elemente umspülten und liebkosten seinen Körper.

Er verlor alles Zeitgefühl, während der Reitertrupp die Straße am Fluß entlangdonnerte, in die Wälder abbog, sich auf einem schmalen Weg durch Buschland und über freie Flächen schlängelte, Bruchland und kleine Hügel überquerte. Es war ein stürmischer, verwirrender Ritt, und schließlich jagten sie über gerodetes Land und hinauf zu einem Berggipfel, auf dem sich eine alte Erdfestung erhob. Ihre Gräben und Wälle mußten noch aus uralten Zeiten stammen. Auf den Wällen hatte man Befestigungen aus mächtigen Holzstämmen errichtet. Das Tor stand offen, und der Reitertrupp brauste mit unverminderter Schnelligkeit auf einer Holzbrücke über den Wall und in die Burg hinein.

Drinnen hielten sie so plötzlich an, daß ein paar Pferde sich unwillig aufbäumten und ausschlugen. Dann glitten die Männer aus den Sätteln, und fackeltragende Gestalten eilten herbei und führten die schaumbedeckten Tiere in die Ställe.

Einen Augenblick stand Eadulf da, ganz außer Atem, und betrachtete neugierig seine Begleiter.

Sie hatten jetzt ihre Kapuzen abgestreift, und im Licht der Fackeln und Lampen erkannte Eadulf, daß es keine Mönche waren. Sie alle sahen wie Krieger aus.

»Seid ihr Krieger aus Cashel?« fragte er, als er wieder zu Atem gekommen war. Gelächter antwortete ihm, dann verschwanden sie in der Dunkelheit, und Eadulf blieb allein mit ihrem Anführer zurück.

Im Schein einer nahen Fackel erblickte Eadulf nun einen älteren Mann mit langwallendem Silberhaar. Dieser trat einen Schritt näher und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Wir sind nicht aus Cashel, Angelsachse. Wir sind Männer aus Laigin.«

Das stürzte Eadulf in völlige Verwirrung. »Das verstehe ich nicht. Warum habt ihr mich hierhergebracht? Wo sind wir überhaupt? Geschah es denn nicht auf Anweisung Fidelmas von Cashel?«

Der Alte lachte leise. »Glaubst du denn, eine dalaigh würde so sehr gegen das Gesetz verstoßen, daß sie dich aus dem Rachen der Hölle risse, Angelsachse?« fragte er belustigt.

»Dann kommt ihr also nicht von Fidelma? Ich verstehe gar nichts mehr . Laßt ihr mich frei, damit ich in mein Heimatland weiterreisen kann?«

Der Alte wies auf die Wälle der Festung, in die er Eadulf gebracht hatte.

»Diese Wälle umgrenzen dein neues Gefängnis, Angelsachse. Ich halte zwar nichts davon, für ein Leben ein anderes zu nehmen, aber ich glaube daran, daß unsere einheimischen Gesetze befolgt werden müssen. Ich beuge mich den römischen Bußgesetzen nicht, für mich gelten die Gesetze der Brehons.«

Das verwirrte Eadulf mehr denn je. »Wer bist du und wie heißt dieser Ort?«

»Ich heiße Coba und bin der bo-aire von Cam Eo-laing. Siehst du diese Wälle? Es sind die Wälle meiner Burg. Sie sind die Grenzen deines maighin digona

Den Ausdruck hatte Eadulf noch nie gehört und sagte das auch.

»Das maighin digona ist eine Freistätte, die das Gesetz vorsieht. Innerhalb dieser Wälle habe ich das Recht, jedem Fremden Schutz zu gewähren, der vor ungerechter Bestrafung oder Verfolgung flieht. Ich habe dich rechtswirksam vor den gewaltsamen Nachstellungen deiner Verfolger gerettet.«

Eadulf holte tief Atem. »Ich glaube, jetzt verstehe ich.«

Der Alte sah ihn scharf an. »Ich hoffe, du verstehst das. Ich gewähre dir diesen Schutz nur so lange, bis du vor einen höherrangigen Richter gerufen wirst und ein Verfahren nach unseren einheimischen Gesetzen erhältst. Ich muß dich warnen: Diese Freistätte ist nicht unverletzlich, denn wenn du nach unseren Gesetzen schuldig bist, entgehst du der Gerechtigkeit nicht. Wenn du von hier flüchtest, bevor du erneut vor Gericht stehst, trifft mich deine Strafe. Ich darf Gewalt abwenden, aber nicht die Gerechtigkeit behindern. Außerhalb dieser Wälle erwartet dich nichts als der Tod, wenn du diesen Ort verläßt, bevor du ein neues Urteil bekommen hast.«

»Dafür bin ich dankbar«, seufzte Eadulf. »Denn ich bin wirklich unschuldig und hoffe, daß sich das auch beweisen läßt.«

»Ob du unschuldig bist oder nicht, das geht mich nichts an, Angelsachse«, erklärte der Alte streng. »Ich glaube einfach an unsere Gesetze und werde dafür sorgen, daß du nach unseren Gesetzen gerichtet wirst. Wenn du flüchtest, macht mich das Gesetz als den, der dir Schutz gewährte, für dein ursprüngliches Vergehen verantwortlich, und ich muß die Strafe selbst auf mich nehmen. Deshalb werde ich nicht zulassen, daß du dich dem Gesetz entziehst. Verstehst du, was ich meine, Angelsachse?«