Fidelma überdachte diesen Umstand schweigend und bemerkte dann leise: »An dem Kai bei der Abtei scheint der Tod häufig umzugehen. Das ist offenbar ein finsterer, unglückbringender Ort.«
Lassar verzog das Gesicht, während sie Teller einsammelte. »Da ist was Wahres dran. Schwester Etrom-ma und ihren schwachköpfigen Bruder hast du schon kennengelernt, nicht wahr?«
»Cett? Ja. Was haben die damit zu tun?«
»Damit nichts. Ich erwähnte sie bloß als Beispiele für Unglück. Hättest du gedacht, daß Schwester Etromma vom Königshaus von Laigin abstammt, von den Ui Cheinnselaigh?«
Fidelma überlegte, weshalb sie das nicht überraschte. Irgendwer hatte es ihr schon erzählt.
Lassar plauderte zutraulich weiter. »Weißt du, als die Ui Neill von Ulaidh einmal in unser Königreich einfielen, als Etromma noch ein Kind war, da wurden sie und ihr Bruder als Geiseln genommen. Bei der Gelegenheit soll Cett eine Verwundung erhalten haben, die ihn schwachsinnig machte. Eine traurige Geschichte.«
»Traurig schon, aber nicht einzigartig«, meinte Fidelma.
»Ach ja, aber wirklich einzigartig daran war, daß trotz Etrommas Abkunft aus dem Königshaus der damalige König Crimthann sich weigerte, das Lösegeld zu zahlen, und die beiden Kinder der zarten Fürsorge der Ui Neill überließ. Etrommas Zweig der Familie war arm und konnte das Lösegeld nicht aufbringen.«
»Wie ging es weiter?« fragte Fidelma interessiert.
»Nach einem Jahr brachte es Etromma fertig, mit ihrem Bruder aus dem Norden zu fliehen und hierher zurückzukehren. Ich glaube, sie war sehr verbittert. Beide traten in den Dienst der Abtei. Du hast also recht, dort ist viel Trauriges passiert.«
Lassar nahm die Teller und ging. Fidelma hing ihren Gedanken nach, dann erhob sie sich. Dego schaute sie fragend an.
»Wohin jetzt, Lady?«
»Ich gehe wieder zur Abtei und sehe zu, was ich noch in Erfahrung bringen kann«, erklärte sie ihm.
»Meinst du, daß Bischof Forbassach recht hatte und jemand Eadulf zur Flucht verholfen hat?« fragte Dego.
»Ich glaube, es wäre schwer, ohne Hilfe von außen aus der Zelle zu entkommen, in der er eingesperrt war. Aber wer ihm half und warum, das ist ein Geheimnis, das wir lüften müssen. Es gibt einen Menschen, der ihm vielleicht geholfen hat, und das ist ein Fürst namens Coba. Er hängt jedenfalls an den Gesetzen der Fenechus, nicht an den Bußgesetzen, die Fainder so liebt. Aber es wäre unklug, sich direkt an ihn zu wenden, für den Fall, daß ich mich täusche. Während ich in der Abtei bin, versuchst du möglichst viel über Co-ba zu erfahren. Mach es aber nicht zu auffällig.«
Dego neigte zustimmend den Kopf. »Eadulf hat sich auf etwas Gefährliches eingelassen, Lady. Denkst du, daß er versuchen wird, mit uns in Verbindung zu treten?«
»Ich hoffe es«, sagte Fidelma inbrünstig. »Ich wünschte mir, er würde sich Barran stellen und seine Unschuld beweisen. Bischof Forbassach hat recht, wenn er sagt, daß die Flucht als Schuldbekenntnis gewertet werden kann.«
»Aber wenn er nicht geflüchtet wäre, dann wäre er jetzt tot«, gab Dego trocken zu bedenken.
Einen Moment wallte Bitterkeit in Fidelma auf.
»Denkst du, ich hätte vergessen, daß ich mit all meiner Rechtskenntnis Eadulf nicht helfen konnte?« fuhr sie den Krieger an. »Vielleicht hätte ich tun sollen, was nun jemand anders getan hat.«
»Lady«, antwortete Dego rasch, »ich wollte dich nicht kritisieren.«
Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm.
»Entschuldige meinen Ausbruch. Es war mein Fehler«, sagte sie reumütig.
»Wenn Eadulf es ein paar Tage vermeiden kann, wieder eingefangen zu werden, dann besteht die Aussicht, daß Aidan mit Brehon Barran zurückkommt«, sprach Dego ihr Mut zu. »Und in dem Fall kann die neue Verhandlung stattfinden, die du dir wünschst.«
»Aber wenn er nun frei entscheiden kann, wohin wird er sich wenden?« überlegte Fidelma. »Er könnte versuchen, ein Schiff zu erreichen und ins Land der Angelsachsen zu fahren, in seine Heimat.«
»Das Land verlassen, ohne dich zu benachrichtigen, Lady? Das würde er nie tun, zumal er nun weiß, daß du in Fearna bist.«
Damit konnte er Fidelma nicht trösten.
»Vielleicht hat er gar keine Wahl, aber ich hoffe, er zögert nicht meinetwegen. Lieber sollte er sich in den Bergen oder den Wäldern verbergen, bis die Suche nach ihm nachgelassen hat.« Sie hielt verlegen inne; eine dalaigh sollte nicht darüber nachdenken, wie man am besten dem Gesetz entgehen kann. »Wo ist übrigens Enda?«
»Er ging früh aus. Ich glaube, er sagte, er hätte etwas für dich zu erledigen.«
Sie konnte sich nicht erinnern, Enda einen Auftrag erteilt zu haben, und meinte achselzuckend: »Wenn ich euch nicht eher sehe, dann treffe ich euch hier im Gasthaus kurz nach dem Mittag.«
Sie ließ Dego weiter frühstücken und ging zielstrebig durch die Straßen zur Abtei.
Es war klar, daß die Nachricht von der Flucht Bruder Eadulfs sich in der ganzen Stadt verbreitet hatte, denn auf ihrem Wege starrten sie die Leute mit unverhohlenem Interesse an, und manche flüsterten mit ihren Nachbarn. Die Mienen reichten von Feindseligkeit bis zu einfacher Neugier. Nur ein- oder zweimal machten ein paar Leute ihrem Verdacht mit Schimpfworten Luft. Die ignorierte sie. Jeder Mensch in Fear-na wußte anscheinend, wer sie war und in welchem Verhältnis sie zu dem Angelsachsen stand, der am Mittag hatte gehängt werden sollen.
Im Innern wurde Fidelma von verschiedenen starken Gefühlen bewegt. Sie wußte, daß sie diese Empfindungen unter Kontrolle halten mußte, wenn sie noch etwas erreichen wollte. Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft mußte sie ihren Geist von diesen Regungen frei halten. Wenn sie anders an Eadulf dachte als an einen Menschen, der dringend ihre Hilfe und ihre Erfahrung benötigte, dann konnte sie irre werden von der Angst, die dicht unter der Oberfläche ihres kühlen Äußeren brodelte.
Am Tor der Abtei begrüßte Schwester Etromma sie mit tiefem Mißtrauen.
»Du bist die letzte, die ich erwartet hätte«, erklärte sie grob.
»Ach ja? Und warum?« erkundigte sich Fidelma unschuldig, als die Verwalterin sie widerwillig einließ.
»Ich dachte, du würdest voller Freude nach Cashel zurückkehren. Der Angelsachse ist entkommen. Das wolltest du doch, oder nicht?«
Fidelma sah sie ernst an.
»Was ich wollte«, erwiderte sie mit scharfer Betonung, »war, daß Bruder Eadulf Gerechtigkeit fände und sich gegen die Beschuldigung rechtfertigen könnte. Was die freudige Rückkehr nach Cashel angeht, so werde ich diesen Ort nicht eher verlassen, bis ich herausgefunden habe, was hier mit Bruder Eadulf geschehen ist, und ich seinen Ruf wiederhergestellt habe. Eine Flucht ist kein Freispruch vor dem Gesetz.«
»Flucht ist besser als Tod«, antwortete die Verwalterin und wiederholte beinahe Degos Worte.
»Da ist etwas Wahres dran, aber es wäre mir lieber, seine Unschuld wäre erwiesen, als daß er zum Flüchtling würde, den jeder als außerhalb des Gesetzes stehend behandeln kann.«
»Jeder in der Abtei denkt, daß du bei seiner Flucht die Hand im Spiel hattest. War das so?«
»Du fragst sehr direkt, Schwester Etromma. Nein, ich habe Eadulf nicht geholfen zu entkommen.«
»Es wird schwierig sein, die Leute davon zu überzeugen.«
»Ob schwierig oder nicht, das ist die Wahrheit. Ich habe auch kein Interesse daran, meine Zeit damit zu verschwenden, Leute überzeugen zu wollen.«
»Hier wirst du vielleicht feststellen, daß Lügen dir Freunde gewinnen, die Wahrheit aber nur Haß hervorruft.«
»Da wir gerade von Haß reden, du magst Äbtissin Fainder nicht sonderlich, nicht wahr?«
»Es ist nicht erforderlich, daß eine Verwalterin die Äbtissin mag, der sie dient.«
»Gefällt dir die Art, wie sie die Abtei leitet? Ich meine diese Sache mit den Bußgesetzen.«