»Die Regel der Abtei ist verkündet worden. Ihr muß ich gehorchen. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst, Schwester. Versuche mich nicht zu überreden, daß ich die Haltung der Äbtissin oder Bischof Forbassachs verurteile. Ob die Bestrafung nun nach den Bußgesetzen oder nach dem Gesetz der Fenechus erfolgt, vergiß nicht, daß der Angelsachse der Vergewaltigung und des Mordes für schuldig befunden wurde. Für dieses Verbrechen muß er nach dem Gesetz bestraft werden - ganz gleich, nach welchem Gesetz. Jetzt habe ich aber zu tun. Heute ist in der Abtei viel zu erledigen. Was ist der Zweck deines Besuchs?«
»Zuerst möchte ich die Äbtissin sprechen.«
»Es würde mich überraschen, wenn sie dich empfängt.«
»Dann machen wir doch die Probe darauf.«
Äbtissin Fainder empfing Fidelma doch. Sie saß wie gewöhnlich hinter ihrem Tisch, mit strenger Miene und mit Mißtrauen in den dunklen Augen.
»Schwester Etromma hat mir berichtet, daß du jede Kenntnis von der Flucht des Angelsachsen leugnest, Schwester Fidelma. Du erwartest doch nicht, daß ich dir das glaube?« lautete ihre bissige Einleitung.
Fidelma lächelte leise und nahm ungebeten Platz. Sie bemerkte das ärgerliche Zucken in der Miene der Äbtissin, doch in diesem Fall war Äbtissin Fainder zu klug, um etwas einzuwenden.
»Ich erwarte nicht, daß du irgend etwas glaubst, Mutter Äbtissin«, antwortete Fidelma gelassen.
»Aber du möchtest dein unschuldiges Nichtwissen vor mir verteidigen?« höhnte die Äbtissin.
»Ich muß gar nichts vor dir verteidigen«, entgegne-te Fidelma. »Ich bin lediglich gekommen, um deine Zustimmung dazu einzuholen, weiterhin Mitglieder dieser Gemeinschaft zu befragen.«
Überrascht lehnte sich Äbtissin Fidelma zurück.
»Zu welchem Zweck?« wollte sie wissen. »Du hast doch alle Fragen gestellt und deine Berufung beim Gericht eingelegt. Die Wahrheit kam heraus, als der Angelsachse aus seiner Zelle entfloh.«
»Gestern hatte ich nicht die Zeit, alle die Fragen zu stellen, mit denen ich die gegen Bruder Eadulf erhobenen Beschuldigungen klären wollte. Deshalb möchte ich heute damit weitermachen.«
Zum erstenmal schaute Äbtissin Fainder völlig verwirrt drein.
»Du vergeudest deine Zeit. Wie ich erfuhr, will Forbassach untersuchen, welchen Anteil am Entkommen des Angelsachsen du möglicherweise hast. Für mich ist seine Flucht ein klarer Beweis seiner Schuld. Wenn er gefaßt ist, wird man entsprechend mit ihm verfahren. Wer ihm zur Flucht verholfen hat, wird ebenfalls bestraft. Denke daran, Schwester Fidelma.«
»Die gerichtlichen Verfahrensregeln sind mir durchaus bekannt, Mutter Äbtissin. Aber bis Bruder Eadulf wieder eingefangen ist, habe ich Zeit, meine Aufgabe fortzuführen. Es sei denn, du weißt etwas, was ich nicht erfahren soll.«
Äbtissin Fainder wurde blaß und setzte zu einer Erwiderung an, als die Tür aufgerissen wurde. Fidelma fuhr herum.
Zu ihrer Überraschung war es der dürre, hagere Flußschiffer namens Gabran, der im Türrahmen stand. Er stutzte, erkannte sie und wurde verlegen.
»Tut mir leid, Lady«, entschuldigte er sich bei der Äbtissin. »Ich wußte nicht, daß du Besuch hast. Die Verwalterin sagte, du wolltest mich sprechen. Ich komme später noch einmal.«
Er ging und schloß die Tür, ohne Fidelma zu grüßen.
Mit leicht belustigter Miene wandte sich Fidelma wieder Äbtissin Fainder zu.
»Nun, das ist hochinteressant. Ich habe noch nie einen Flußschiffer gesehen, der solche Freiheiten in einer Abtei genoß, daß er die Privaträume der Äbtissin betreten konnte, ohne anzuklopfen.«
Äbtissin Fainder war irritiert. »Der Mann ist ein Flegel. Er hat kein Recht, hier so hereinzukommen«, erklärte sie nach kurzem Zögern. Es klang nicht sehr überzeugend. »Wer erlaubt dir überhaupt, mich danach zu fragen?«
Schwester Fidelma lächelte sanft, ohne darauf einzugehen.
Äbtissin Fainder wartete einen Moment, dann zuckte sie die Achseln.
»Der Mann treibt Handel mit der Abtei, das ist alles.« Es hörte sich wie eine Entschuldigung an. Fidelma schwieg, als erwarte sie, daß Äbtissin Fainder fortfahre.
»Bischof Forbassach hat dich letzte Nacht gesucht«, begann die Äbtissin. »Sobald entdeckt wurde, daß der Angelsachse geflohen war, oder vielmehr, daß man ihm zur Flucht verholfen hatte, ließ ich den Bischof holen. Er meinte, wenn jemand wüßte, wo der Angelsachse geblieben wäre, dann müßtest du das sein. Anscheinend hat er dich verfehlt.«
»Nein, das hat er nicht«, erwiderte Fidelma. »Er weckte mich mitten in der Nacht und suchte vergeblich nach Bruder Eadulf.«
Äbtissin Fainder riß die Augen auf. Sie hatte offensichtlich noch nichts von Forbassachs mitternächtlichem Besuch gehört.
»Er hat dein Zimmer durchsucht und nichts gefunden?« fragte sie unsicher.
»Du scheinst überrascht. Nein, er hat nicht Bruder Eadulf unter meinem Bett entdeckt, wenn du das meinst, Mutter Äbtissin. Wenn er Verstand besäße, hätte er das auch nicht erwartet. Bischof Forbassach hat nichts gefunden.«
»Nichts?« Äbtissin Fainder klang ungläubig, und sie grübelte sichtlich über diese Neuigkeit nach. Dann schien ihre hochmütige Haltung von ihr abzufallen.
Sie fügte sich. »Na gut, wenn du noch weitere Fragen stellen willst, dann fang an. Ich bin sicher, jeder in der Abtei hegt dieselbe Vermutung darüber, wer dem Angelsachsen zur Flucht verhalf.«
Fidelma erhob sich und meinte beiläufig: »Vielen Dank für deine Hilfe, Mutter Äbtissin. Es ist gut zu wissen, daß jeder in der Abtei dieselbe Vermutung hegt, wer Eadulf zur Flucht verhalf.«
Äbtissin Fainder war verblüfft. Fragend sah sie Fidelma an.
Fidelma entschied sich zu antworten.
»Wenn jeder in der Abtei eine Idee hat, wer Eadulf bei seiner Flucht behilflich war, dann werden sie es mir vielleicht mitteilen, damit wir dieses Geheimnis rasch lüften können. Vielleicht wissen sie sogar, wer das junge Mädchen wirklich getötet hat, dessen Ermordung man ihm zur Last legt.«
Äbtissin Fainder fand zu ihrer überlegenen Haltung zurück.
»Willst du trotz allem behaupten, daß der Angelsachse unschuldig ist?«
»Ich bin auch jetzt noch davon überzeugt, daß es so ist.«
Die Äbtissin schüttelte langsam den Kopf. »Eins muß ich dir lassen, Schwester Fidelma, du bist hartnäckig in deinem Glauben.«
»Ich freue mich, daß du soviel schon über mich weißt, Mutter Äbtissin. Du wirst auch noch merken, daß ich nie aufgebe, bis die Wahrheit ans Licht gekommen ist.«
»Die Wahrheit ist mächtig und setzt sich durch«, zitierte Äbtissin Fainder spöttisch.
»Ein weiser Spruch, nur stimmt er leider nicht immer. Aber er ist ein Ideal, für das man arbeiten kann, und das habe ich mein Leben lang getan.« Plötzlich setzte sie sich wieder und beugte sich über den Tisch vor. »Da sich die Gelegenheit bietet, muß ich dir ein paar Fragen stellen.«
Äbtissin Fainder wurde von diesem Kurswechsel überrascht. Sie machte eine Handbewegung, die man als Einladung deuten konnte.
»Ich nehme an, Schwester Fial ist weiterhin verschwunden?«
»Ich habe nicht gehört, daß man ihren Aufenthalt ermittelt hätte. Anscheinend hat sie sich entschlossen, die Abtei zu verlassen.«
»Was kannst du mir über diese geheimnisvolle junge Novizin Schwester Fial erzählen?«
Äbtissin Fainder verzog ärgerlich das Gesicht.
»Sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie stammte aus den Bergen im Norden. Ich glaube, sie sagte, sie und Gormgilla kamen gemeinsam her, um dieser Gemeinschaft beizutreten.«
»Zwölf oder dreizehn Jahre ist weniger als das Alter der Wahl«, erinnerte sie Fidelma. »Die Mädchen waren ein wenig zu jung, um sich aus eigenem Antrieb einer Gemeinschaft anzuschließen. Oder haben ihre Eltern sie hergebracht?«
»Ich habe keine Ahnung. Schwester Fial war sehr bewegt, was ja auch natürlich war, da sie doch den Tod ihrer Freundin miterlebt hatte. Sie weigerte sich, weiterzureden, nachdem sie die Ereignisse jener Nacht ausführlich beschrieben hatte. Ich finde es nicht überraschend, daß sie uns verlassen hat. Wahrscheinlich ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt.«