Fidelma stieß einen Schrei aus, als ihr ein Gedanke kam. Die Äbtissin fuhr zusammen.
»Ein Kind unter vierzehn hat keine gesetzliche Verantwortlichkeit. Es muß das Alter der Wahl erreicht haben.«
Äbtissin Fainder wartete höflich. Ärgerlich führte Fidelma den Punkt weiter aus.
»Das bedeutet nach dem Gesetz, daß ein Kind in diesem Alter vor Gericht nicht aussagen kann. Das hätte ich in meiner Berufung geltend machen müssen. Die ganze Aussage Fials war bei Gericht nicht zulässig.«
Das schien die Äbtissin zu belustigen. »Da hast du unrecht, dalaigh. Bischof Forbassach hat es mir erklärt: Die Aussage eines Kindes in seiner eigenen Heimstatt darf gegen einen Verdächtigen verwendet werden.«
Fidelma war verwirrt. »Diese Auslegung des Gesetzes verstehe ich nicht. Wie konnte Fial, dieses Kind, sich in seiner eigenen Heimstatt befinden?«
Fidelma wußte natürlich, daß nach dem Gesetz das Zeugnis eines Kindes vor dem Alter der Reife unter bestimmten Bedingungen zugelassen war - wenn nämlich das Kind über etwas aussagte, was sich zum Beispiel in seinem eigenen Heim ereignet hatte und von dem es persönliche Kenntnis besaß. Nur in einem solchen Fall wurde die Aussage berücksichtigt.
Mit einem Lächeln überlegenen Wissens erwiderte Äbtissin Fainder: »Die Gemeinschaft bildet nach dem Urteil Forbassachs die Heimstatt ihrer Mitglieder. Das Kind war hier als Mitglied der Gemeinschaft. Dies war ihr Heim.«
»Das ist doch Unsinn!« fauchte Fidelma. »Das verdreht den Sinn des Gesetzes. Sie war als Novizin hergekommen, und nach dem, was gesagt wurde, hielt sie sich erst wenige Tage in der Abtei auf. Wie kann man nach dem Geist des Gesetzes da die Abtei als ihr eigenes Heim, als ihre Gemeinschaft bezeichnen?«
»Weil Bischof Forbassach es so entschied. Du solltest dich über dieses Gesetz mit ihm streiten und nicht mit mir.«
»Bischof Forbassach!« Fidelma verzog ärgerlich das Gesicht. Der Richter von Laigin hatte das Gesetz ganz erheblich gebeugt. Der Gedanke, daß ein unmündiges Kind ausgesagt hatte, war ihr erst jetzt gekommen; doch wenn Forbassach bereit war, das Recht so weit zu beugen, dann war es kein Wunder, daß er entschlossen war, seine früheren Urteile aufrechtzuerhalten. Wenn doch nur Barran über die Berufung entschieden hätte, dann wäre Eadulf jetzt frei, und ...
Äbtissin Fainder war bei ihrem spöttischen Ton errötet.
»Bischof Forbassach ist ein weiser und gerechter Richter«, verteidigte sie ihn. »Ich verlasse mich vollständig auf sein Wissen.«
Fidelma bemerkte, mit welcher Überzeugung die Äbtissin für den Brehon eintrat.
»Ihr scheint in dieser Abtei die Dienste Bischof Forbassachs häufig zu benötigen«, meinte Fidelma ruhig.
Die Äbtissin errötete noch tiefer.
»In den letzten Wochen haben mehrere Zwischenfälle den Frieden der Abtei gestört. Außerdem ist Forbassach nicht nur Brehon, sondern auch Bischof, und er hat seine Zimmer in der Abtei.«
»Forbassach wohnt in der Abtei? Das habe ich nicht gewußt«, warf Fidelma ein. »Nun, es ist schon ein eigenartiger Ort, an dem mehrere Menschen getötet wurden und andere verschwunden sind. Ich darf wohl annehmen, daß das nicht üblich ist?«
Äbtissin Fainder ignorierte ihren ironischen Ton.
»Deine Annahme ist richtig, Schwester Fidelma«, erwiderte sie kühl.
»Erzähl mir von Bruder Ibar.«
Einen Moment verschleierten sich die Augen der Äbtissin. »Ibar ist tot. Er hat seine gerechte Strafe just an dem Tag empfangen, als du hier ankamst.«
»Ich weiß, daß er gehängt wurde«, erklärte Fidelma. »Ich habe gehört, er soll einen Schiffer getötet und beraubt haben? Ich würde gern etwas über die Einzelheiten des Verbrechens erfahren.«
Äbtissin Fainder zögerte. »Ich verstehe nicht, was das mit deinem angelsächsischen Freund zu tun hat«, meinte sie.
»Tu mir den Gefallen«, bat Fidelma. »Ich finde es seltsam, daß es an jenem Kai drei Todesfälle in so kurzer Zeit gegeben hat.«
Äbtissin Fainder schaute entsetzt drein. »Drei Todesfälle?«
»Das Mädchen Gormgilla, der Schiffer und dann ein Wachmann namens Daig.«
Die Äbtissin runzelte die Stirn. »Daigs Tod war ein Unfall.«
Fidelma fragte sich, warum der Mund der Äbtissin auf einmal so verkniffen war.
»Daig gehörte der Wache an, die Bruder Ibar festnahm, und später wurde er selbst tot aufgefunden.«
»So war es überhaupt nicht!« Die Stimme der Äbtissin war schrill und überschlug sich fast.
»Ich dachte, ich hätte nur die Tatsachen festgestellt. Wie war es denn? Das möchte ich gern wissen.«
Wieder antwortete die Äbtissin erst nach kurzem Zögern.
»Gabran, der Flußschiffer, treibt regelmäßig Handel mit der Abtei. Das ist der Mann, der vorhin an meine Tür kam. Es war einer aus seiner Mannschaft, der umgebracht wurde. An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern.«
»Das ist traurig«, bemerkte Fidelma eisig.
»Traurig?«
»Daß der Name eines Menschen, dessen Tod zur Hinrichtung eines Mönchs aus eurer Gemeinschaft führte, unbekannt bleibt.«
Äbtissin Fainder schaute unsicher drein; sie wußte nicht, ob Fidelma sie verspottete oder nicht.
»Schwester Etromma weiß den Namen sicher, wenn dir so viel daran liegt. Es ist ihre Aufgabe als rechtaire, so etwas zu wissen. Soll ich sie holen lassen?«
»Nicht nötig«, antwortete Fidelma. »Ich kann später mit ihr sprechen. Erzähl weiter.«
»Es ist eine scheußliche Geschichte.«
»Unnatürlicher Tod ist selten anders als scheußlich.«
»Der Schiffer soll betrunken gewesen sein. Er hatte im Gasthaus zum Gelben Berg gezecht und war auf dem Rückweg zu Gabrans Schiff. Es hatte für zwei Tage angelegt. Am Kai schlug ihm jemand mit einem schweren Stück Holz von hinten den Schädel ein. Der Mörder nahm der Leiche Geld und eine goldene Kette ab.«
»Gab es Zeugen für den Überfall auf den Mann?«
Äbtissin Fainder schüttelte den Kopf. »Niemand hat es wirklich gesehen.«
»Wie kam man dann auf Bruder Ibar?«
»Daig war Hauptmann der Wache. Er nahm Ibar gefangen.«
»Hauptmann? War das nicht Mels Stellung?«
»Fianamail hatte Mel bereits zum Befehlshaber seiner Palastwache ernannt.«
Fidelma überlegte einen Moment. »Ich hörte, der Mord an dem Schiffer geschah einen Tag nach dem Tod von Gormgilla?«
»Das stimmt. Fianamail gefiel das schnelle Handeln Mels, und er beförderte ihn noch am selben Morgen.«
»Mel wurde noch vor der Verhandlung gegen Bru-der Eadulf befördert?« Fidelma wiegte verwundert den Kopf. »Ein Brehon könnte das als Beeinflussung eines Zeugen werten.«
Äbtissin Fainder errötete wieder. »Bischof Forbas-sach tat das nicht. Er riet dem König, Mel zu befördern. Es ist mir schon mehrmals aufgefallen, daß du die Grundsätze und Handlungen des Brehons von Laigin in Zweifel ziehst. Du solltest daran denken, daß er auch Bischof ist und in Fragen des Glaubens wie des Rechts über dir steht. Ich würde es mir sehr überlegen, ehe ich .«
Sie bemerkte das Funkeln in Fidelmas Augen, deren Farbe sich von Grün zu kaltem Blau verändert hatte.
»Ja?« fragte Fidelma ruhig. »Ja?«
Äbtissin Fainder hob das Kinn. »Mir erscheint es moralisch nicht vertretbar, eine so angesehene Persönlichkeit wie Bischof Forbassach anzugreifen, noch dazu, wenn du nicht einmal aus diesem Königreich stammst.«
»Das Gesetz der Brehons ist das Gesetz, ganz gleich, in welchem der fünf Königreiche von Eireann man sich befindet. Als der Großkönig Ollamh Fodhla vor fast anderthalbtausend Jahren zuerst befahl, die Gesetze zu sammeln, wurde festgelegt, daß die Gesetze der Fene-chus in jedem Teil dieses Landes gelten sollten. Wenn ein Urteil falsch ist, dann ist es die Pflicht aller, vom niedrigsten bo-aire bis zum Oberrichter der fünf Königreiche, zu verlangen, daß die Irrtümer erläutert und berichtigt werden.«