Äbtissin Fainders Miene wurde äußerst angespannt, als sie Fidelmas eindringliche Worte vernahm. Klugerweise ging sie nicht weiter darauf ein.
»Nun«, sagte Fidelma und lehnte sich zurück, »du sagtest, daß Mel befördert und Daig jetzt Hauptmann der Wache an den Kais geworden war. Wie hat er Bruder Ibar gefangen? Du gebrauchtest den Ausdruck >gefangen<. Das Wort deutet daraufhin, daß Bruder Ibar Widerstand leistete oder zu fliehen versuchte.«
»Das war nicht der Fall. Als Daig die Leiche des Schiffers entdeckte, wußte er, daß es sich um ein Mitglied der Mannschaft Gabrans handelte. Er ließ Ga-bran holen, damit er den Mann identifizierte, und Ga-bran stellte fest, daß die Goldkette, die der Mann gewöhnlich trug, fehlte und ebenso einige Münzen, die ihm gerade als Lohn ausgezahlt worden waren. Die Wirtin Lassar bezeugte, daß der Schiffer kurz zuvor ihr Gasthaus mit reichlich Geld verlassen hatte. Ga-bran hatte ihm dort gerade seinen Lohn ausgehändigt. Deshalb hatte der Mann auch getrunken. Es war ein klarer Fall von Raub.«
»Nun gut, aber welcher Weg führte - ohne alle Zeugen - vom Überfall auf den Schiffer zu Bruder Ibar?«
»Einen Tag später wurde Ibar gefaßt, wie er auf dem Markt versuchte, die Goldkette des Schiffers zu verkaufen. Die Ironie des Zufalls wollte es, daß er sie Gabran selbst anbot. Der rief dann Daig, und daraufhin wurde Ibar verhaftet, für schuldig befunden, verurteilt und gehängt.«
Diese Schilderung stimmte Fidelma nicht glücklich.
»Es war eine Dummheit, falls Bruder Ibar schuldig war«, überlegte sie. »Ich meine den Versuch, die Goldkette des Opfers ausgerechnet seinem Kapitän zu verkaufen. Wenn Gabran dafür bekannt war, daß er Handel mit der Abtei trieb, hätte Ibar doch wissen müssen, daß Gabran die Kette erkennen würde? Er hätte sich einen weniger gefährlichen Weg gesucht, die Kette zu veräußern.«
»Es ist nicht meine Sache, zu erraten, was in Ibars Kopf vor sich ging.«
»Wie du gesagt hast, treibt Gabran seit geraumer Zeit Handel mit der Abtei. Wie lange war Bruder Ibar hier?«
Die Äbtissin machte eine verlegene Bewegung.
»Ich glaube, schon einige Zeit. Bereits bevor ich herkam.«
»Dann stimmt meine Vermutung. Was hatte Bruder Ibar zu der Beschuldigung zu sagen?«
»Er leugnete alles, sowohl den Mord wie den Raub.«
»Aha. Wie erklärte er, daß er im Besitz der Kette war?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Wozu brauchte Bruder Ibar so dringend Geld -wenn wir davon ausgehen, daß er den Schiffer ermordete und beraubte?«
Die Äbtissin zuckte die Achseln und schwieg.
»Und was passierte mit Daig? Wie kam er zu Tode?«
»Ich sagte doch schon, es war ein Unfall. Er ertrank im Fluß.«
»Ein Hauptmann der Flußwache ertrank?«
»Was willst du damit unterstellen?« fragte Äbtissin Fainder.
»Ich treffe nur eine Feststellung. Wie konnte jemandem, der die Fähigkeit zum Hauptmann der Wache an den Kais besaß, ein solcher Unfall zustoßen?«
»Es war dunkel. Ich glaube, er rutschte aus und fiel vom Kai. Dabei schlug er mit dem Kopf gegen einen Holzpfeiler und war bewußtlos. Deshalb ertrank er, ehe ihm jemand helfen konnte.«
»Gab es Zeugen für den Unfall?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Von wem hast du dann diese Einzelheiten?«
Äbtissin Fainder runzelte ärgerlich die Stirn. »Von Bischof Forbassach.«
»Also hat er diesen Todesfall auch untersucht? Wie lange nach Bruder Ibars Verhandlung ereignete sich dieser Unfall?«
»Wie lange? Soweit ich mich erinnere, kam Daig noch vor der Verhandlung zu Tode.«
Fidelma schloß einen Moment die Augen. Sie wollte sich von den Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Abtei nicht mehr überraschen lassen.
»Davor? Dann erfolgte Daigs Aussage also nicht vor Gericht?«
»Es wurden nicht viele Beweise benötigt. Gabran war der Hauptzeuge. Er konnte den Ermordeten identifizieren. Er berichtete von dem fehlenden Geld und erkannte auch die Goldkette, die ihm Ibar verkaufen wollte.«
»Das paßt alles sehr gut zusammen. Dieser Gabran war der einzige, der das Motiv des Raubes für die Ermordung des Schiffers angab; er war der einzige, der behauptete, die Gegenstände seien gestohlen worden, und er war auch der einzige, der Bruder Ibar mit dem Verbrechen in Verbindung brachte. Und auf die Aussage dieses einen Mannes hin wurde Bruder Ibar gehängt. Beunruhigt dich das nicht?«
»Weshalb sollte es mich beunruhigen? Bischof For-bassach hatte keine Bedenken, die Aussage anzuerkennen. Außerdem war es nicht nur Gabrans Aussage. Als Daig hörte, daß Ibar versucht habe, die Goldkette zu verkaufen, ließ er Ibars Zelle hier in der Abtei durchsuchen, und dabei wurden die Kette und das Geld gefunden. Außerdem hat die Sache mit Ibar nichts mit dem Angelsachsen zu tun, Schwester. Was willst du beweisen? Ich hätte gedacht, es wäre jetzt deine Pflicht als dalaigh, uns dabei zu helfen, den Angelsachsen wieder einzufangen.«
Fidelma stand plötzlich auf. »Meine Pflicht als dalaigh besteht darin, die Wahrheit in dieser Angelegenheit zu ermitteln.«
»Du hast die Tatsachen vernommen, und es sind viele.«
»Die Unwahrheit reicht oft weiter als die Wahrheit«, sagte Fidelma; ihr war ein Ausspruch ihres Mentors, des Brehons Morann, eingefallen.
Von fern erklang eine Glocke, die zum mittäglichen Angelusgebet rief.
Äbtissin Fainder erhob sich ebenfalls. »Ich muß meinen Pflichten nachkommen.«
»Eine Frage noch zuvor: Wo finde ich die Zimmer des Abts Noe?«
»Noe?« Die Frage schien Äbtissin Fainder zu überraschen. »Dies ist nicht mehr der Hauptsitz des Abts, wenn er auch noch eine Wohnung hier hat. Er hat jetzt Räume im Palast des Königs inne, aber dort wirst du ihn nicht finden. Er ist gestern aus Fearna nach dem Norden abgereist. Man erwartet ihn erst nach einiger Zeit zurück.«
»Nach dem Norden?« Fidelma war enttäuscht. »Weißt du, wohin er wollte?«
»Die Reisen von Abt Noe gehen mich nichts an.«
Fidelma neigte den Kopf und verließ das Zimmer der Äbtissin. Als sie den kleinen viereckigen Hof erreichte, blieb sie instinktiv im Schatten einer Nische stehen. Kurz darauf kam die Äbtissin aus ihrem Zimmer und eilte über den Hof. Sie ging nicht zu der Kapelle, in der sich die Mitglieder der Gemeinschaft zum Mittagsgebet versammelten, sondern verschwand durch eine Seitentür.
Fidelma folgte ihr in einigem Abstand. Als sie die Holztür öffnete, stellte sie fest, daß es die Verbindungstür zu einem weiteren Hof war, zu dem, dessen Tor auf den Kai hinausging. Sie trat rasch hinter die Tür zurück, die sie etwas offen ließ, denn in der Mitte des Hofs stieg die Äbtissin gerade auf ihr Pferd. Sonst war niemand zu sehen. Dann ritt die Äbtissin im Schritt zum Tor hinaus. Fidelma war verblüfft, daß die Äbtissin ihre Abtei in dem Augenblick verließ, in dem die Angelusglocke die Gemeinschaft zur Andacht rief. Sie fragte sich, was wohl so wichtig wäre, daß sie fort mußte.
Fidelma lief rasch über den Hof zu dem noch offenen Tor zu den Kais. Sie schaute sich nach beiden Seiten um, aber von der Äbtissin und ihrem Pferd war nichts mehr zu sehen. Gleich hinter dem Tor mußte die Äbtissin ihr Pferd in Galopp gesetzt haben, so schnell war sie verschwunden. Doch zu ihrer Überraschung erblickte Fidelma Enda, der zu Pferde aus dem Schatten der Abteimauern auftauchte und gemächlich am Flußufer entlangtrabte. Offensichtlich folgte er der Äbtissin.