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Fidelma lächelte in sich hinein. Sie hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt und kannte sich mit Pferden aus. Sie überließ es dem Pferd, den Weg zu finden, und lenkte es nur gelegentlich sanft in die richtige Richtung. Sie ritt hinter Enda, den sie als dunklen Schatten vor sich sah. Sie wußte, daß der junge Krieger genau auf die Umgebung achtete und jede Gefahr witterte.

Der Spätherbstabend wurde richtig kalt. Sie ahnte, daß es in der Nacht Frost geben werde, den ersten Frost des bevorstehenden Winters. Sie hoffte, daß Eadulf nicht im Freien schlafen müßte. Der Gedanke ließ sie erschauern. Doch wenn er sich nicht in den umliegenden Wäldern oder Bergen verbarg, wo war er dann? Wer würde ihm Schutz bieten?

Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie er wohl die Flucht aus seiner Zelle in der Abtei bewerkstelligt hatte. Immer wieder war sie zu der Schlußfolgerung gekommen, daß ihm jemand von außen geholfen haben mußte. Aber wer? Und warum?

»Den Weg nicht, Lady!« rief Enda aus der Dunkelheit vor ihr.

Fidelma stutzte.

Sie begriff, daß sie, tief in Gedanken, ihrem Pferd zuviel Freiheit gelassen hatte. An einer Weggabel hatte das Pferd den Pfad zur Linken genommen. Fidelma zog rasch den Zügel an und lenkte es Enda nach.

»Tut mir leid, ich hab nicht aufgepaßt«, rief sie. »Weißt du, wohin dieser Weg führt? Er scheint direkt nach Süden zu gehen.«

»Er führt zu einem Ort namens Cam Eolaing. Der soll an demselben Fluß liegen, der an der Abtei vorbeifließt, aber es ist weiter nach Fearna, wenn wir nach Cam Eolaing hinunterreiten und den Weg am Fluß entlang nehmen.«

»Cam Eolaing?« Fidelma fragte sich, warum ihr der Name bekannt vorkam. Sie hatte ihn kürzlich gehört, wußte aber nicht mehr, wo und in welchem Zusammenhang. »Und dies ist der kürzeste Weg?«

»Ja. Wir sind ...«

Enda erkannte die Gefahr eine Sekunde bevor der Schrei Fidelma aufschreckte. Drei oder vier schattenhafte Gestalten stürmten durch das Unterholz neben dem Weg und versuchten, sich ihrer Pferde zu bemächtigen. Instinktiv riß Fidelma am Zügel ihres Pferdes, das sich aufbäumte und mit den Vorderbeinen ausschlug, als es die Kandare im Maul spürte. Die Hufe trafen eine der Gestalten, die mit einem Schmerzensschrei hintenüber flog.

Es waren Männer, und sie waren bewaffnet, nicht nur mit Knüppeln, sondern mit Schwertern, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte. Sie riß wieder an ihrem Pferd, ihrem einzigen Schutz.

Vor ihr hatte Enda sein Schwert gezogen und einen anderen Angreifer niedergehauen.

»Reit zu, Lady, schnell!« schrie der junge Mann.

Gerade als sie ihrem Pferd die Hacken in die Weichen stieß, um es voranzutreiben, rissen die Wolken einen Moment auf, und der helle, weiße Wintermond beleuchtete den Schauplatz mit fast unirdischem Glanz. Sie schaute nach unten, und für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.

Es war das Gesicht des Flußschiffers Gabran, das wütend zu ihr emporstarrte.

Dann schoß ihr Pferd vorwärts, und sie galoppierte den dunklen Pfad entlang, mit Enda an ihrer Seite.

Erst einen Kilometer weiter parierten sie ihre schnaubenden Pferde und ließen sie sich von dem rasenden Galopp erholen. Glücklicherweise verlief der Weg hier gerade und war leidlich eben, sonst wäre der überstürzte Ritt durch die Dunkelheit äußerst gefährlich geworden.

Enda stieß das Schwert in die Scheide zurück. »Räuber!« schnaubte er verächtlich. »Dieses Land ist voller Räuber!«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Fidelma.

Enda fuhr herum. »Was meinst du damit, Lady?«

»Der Mond kam einen Moment hinter den Wolken hervor, und ich erkannte ihren Anführer. Es war Ga-bran.«

»Gabran?« Endas Ton verriet sein Erstaunen, gemischt mit einer gewissen Befriedigung. »Hab ich nicht gesagt, da gibt es einen Zusammenhang?«

»Ja, das hast du. Ich hatte ganz vergessen, daß sein Schiff am Kai vertäut lag in der Nacht, als das Mädchen ermordet wurde. Und dann wurde in der nächsten Nacht einer seiner Leute umgebracht. Du hattest recht, mich darauf hinzuweisen. Agnus Dei!« Sie schloß mit einem Ausruf.

Enda war verblüfft. »Was ist, Lady?«

»Gabrans Schiff lag auch dort, als Daig ertrunken aufgefischt wurde. Hat uns Deog nicht erzählt, daß ein Matrose von einem Schiff namens Cag die Leiche fand? Die Cag ist Gabrans Schiff.«

Enda stieß einen leisen Pfiff aus. »Bist du sicher, daß du ihn erkannt hast, Lady? Es war dunkel.«

»Der Mondschein fiel lange genug auf sein Gesicht, Enda. Diese Visage vergißt man nicht so leicht.«

»Dann sehen wir lieber zu, daß wir schnell nach Fearna kommen, für den Fall, daß sie auch Pferde haben und uns nachsetzen«, sagte er beunruhigt. »Was meinst du, was er vorhat, Lady?«

Sie ritten nebeneinander in schnellem Schritt weiter.

»Ich habe keine Ahnung. Es war gut, daß du diesen Zusammenhang hergestellt hast, Enda. Er lag offen vor mir, aber ich habe ihn nicht gesehen. Es gibt hier ein großes Geheimnis. Es wird jeden Augenblick größer, und wie du schon sagtest, immer ist Gabran dabei.«

Enda schwieg einen Moment. Dann gestand er: »Ich kann mir nicht erklären, warum Gabran uns angegriffen hat, Lady. Wahrscheinlich denkt er, wir wüßten mehr, als wirklich der Fall ist.«

Nach dem, was sie erwogen hatte, vermutete Fidelma das ebenfalls.

Gewöhnlich waren Tatsachen wie eine Perlenkette. Es gab immer einen verbindenden Faden zwischen ihnen, auch wenn viele Perlen fehlten oder richtig sortiert werden mußten; es gab immer einen unwiderleglichen Zusammenhang. Aber diesmal konnte Fidelma keinen Faden entdecken, keinen Zusammenhang zwischen den Tatsachen, die sie gesammelt hatte - keinen außer dem merkwürdigen Fakt, daß bei jedem Ereignis dieser dürre kleine Flußschiffer auftauchte. Im übrigen trieb er ja auch Handel mit der Abtei und hatte ungehinderten Zugang zu den Räumen der Äbtissin Fainder, wie sie erlebt hatte. Zudem nächtigte er im Gasthaus zum Gelben Berg. War er der Faden, der alles zusammenhielt? Aber wie?

Als sie den Weg am Fluß erreichten und an die düsteren Mauern der Abtei kamen, hob Fidelma den Kopf, den sie nachdenkend gesenkt hatte.

»Wir müssen mehr über Gabran in Erfahrung bringen«, sagte sie schließlich laut und spürte sofort, daß sie das Offensichtliche ausgesprochen hatte.

»Meinst du, er hat gemerkt, daß du ihn erkannt hast?« fragte Enda.

»Da bin ich nicht sicher. Sieh mal nach, ob sein Schiff noch am Kai der Abtei liegt. Ich vermute, es ist weg. Wahrscheinlich ist es jetzt nahe der Stelle vertäut, wo wir angegriffen wurden. Aber es lohnt sich, nachzuschauen.«

Sie ritten nun an den Kais vorbei, und Enda sprang ab und reichte Fidelma die Zügel, während er die Flußschiffe musterte.

»Sein Schiff hieß Cag, nicht wahr?« fragte Enda.

»Die >Dohle<, das stimmt.«

Enda ging auf den dunklen Schatten eines Schiffes zu, das am Kai der Abtei vertäut lag. Sie sah, wie jemand an Deck kam, und hörte Stimmen. Dann kehrte Enda zurück und schüttelte den Kopf.

»Ist das Gabrans Schiff?« fragte Fidelma.

»Nein, Lady«, antwortete Enda und stieg wieder auf. »Der Mann sagte, die Cag habe am Nachmittag abgelegt und sei flußaufwärts gefahren.«

»Wußte der Mann, wo Gabran herstammt?«

»Danach habe ich ihn gefragt, doch er wußte es nicht. Aber Lassar wird sicher wissen, wo sein Heimathafen am Fluß ist. Sie kennt ihn anscheinend ganz gut.«

»Da hast du wohl recht.«

Sie ritten um die Mauern der Abtei herum, in die Stadt und geradewegs auf Gasthaus zum Gelben Berg zu.

Ein Stallbursche nahm ihnen die Pferde ab, und als sie den warmen Hauptraum betraten, kam Dego ihnen entgegen. Er schien erleichtert, sie zu sehen.

»Ich wollte schon losreiten und euch beide suchen«, sagte er. »Es ist bereits seit einer Ewigkeit dunkel, und in dieser Gegend sollte man nicht im Finstern unterwegs sein.«