Fidelma beruhigte ihn.
»Darin geben wir dir recht, Dego. Suchen wir uns einen Tisch am Feuer und sehen, was Lassar uns heute abend zu essen anbieten kann. Nicht, daß ich besonderen Hunger hätte.«
Lassar kam geschäftig in die Gaststube und brachte ein Tablett mit Getränken. Sie erblickte sie, bediente ihre Gäste und eilte mit einladendem Lächeln zu ihnen hin.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du noch zur Abendmahlzeit kommst, Schwester. Heute abend bist du spät dran. Hast du nach dem Angelsachsen gesucht? Wie ich gehört habe, hat man keine Spur von ihm gefunden.«
Fidelma hatte ihren Reisemantel abgelegt und wies auf einen Tisch nahe dem großen Feuer, das im Kamin prasselte.
»Wir sind ausgeritten«, bestätigte sie kurz. »Wir setzen uns hier hin, und du sagst uns, was du uns an diesem kühlen Abend anbieten kannst.«
Lassar folgte ihnen an den Tisch und wartete, bis sie sich niedergelassen hatten.
»Als Hauptgericht gibt es heute lonlongin, Ochsengurgel, mit Hackfleisch gefüllt und wie Wurst gekocht. Das ist eine hiesige Spezialität. Ihr könnt aber auch Fisch haben, Lachs zum Beispiel, und ich habe auch noch etwas Seehundsfleisch, das ich mit duilesc und Butter serviere.«
»Dieser Fleischpudding hört sich gut an«, erklärte Enda begeistert.
Fidelma rümpfte angewidert die Nase. »Ich nehme Lachs mit duilesc.« Sie hatte eine Vorliebe für die eßbare rote Meeresalge.
»Ihr könnt auch die Haarzwiebel, den Lauch, mit Gänseei und Käse bekommen, wenn ihr möchtet«, setzte Lassar hinzu.
»Ich bleibe bei Lachs, aber Haarzwiebel klingt gut.«
Dego schloß sich Enda beim lonlongin an, das mit Wurzelgemüse serviert wurde. Die nächste halbe Stunde verbrachten sie schweigend. Fidelma empfand jeden Bissen als Tortur beim Gedanken an Eadulf und daran, wie es ihm wohl in dieser kalten Nacht ergehen mochte. Sie konnte sich besser konzentrieren, wenn sie eine Aufgabe, ein Ziel hatte, doch ihren eigenen Vorstellungen überlassen, verfiel sie in eine düstere Stimmung. Endlich brach sie das Schweigen und wandte sich an Dego.
»Hast du mehr über Coba in Erfahrung bringen können?«
Dego nahm erst einmal einen Schluck Wein. »Kaum. Er hat eine Burg nicht weit von hier, an einem Ort namens Cam Eolaing. Er ist ein kleiner Fürst und Friedensrichter, sehr angesehen, und er hält nichts von Fianamails Einführung der Bußgesetze.«
Fidelma war gereizt. Das hätte sie Dego auch sagen können.
»Aber würde er sich so entschieden gegen Fianamail stellen, daß er Eadulf zur Flucht verhelfen würde?« fragte sie.
Dego zuckte die Achseln und schwieg.
»Morgen werden wir diesen Fürsten aufsuchen«, entschied Fidelma.
Als Lassar kam und das benutzte Geschirr abräumte, ergriff Fidelma die Gelegenheit, sich bei ihr nach Gabran zu erkundigen.
»Gabran? Warum fragst du nach ihm?« Lassar sah sie mißtrauisch an.
»Ich interessiere mich für den Handel auf dem Fluß, weiter nichts.«
»Er ist jetzt für ein paar Tage fort.«
»Fort?« fragte Fidelma harmlos. »Zurück zu seinem Heimathafen? Wo stammt er eigentlich her - irgendwo flußaufwärts?«
»Nicht weit von hier - aus Cam Eolaing. Weiter aufwärts ist der Fluß kaum noch schiffbar.«
Kapitel 13
Eadulf hatte nicht gut geschlafen, und das Zwitschern der Vögel vor Sonnenaufgang ließ ihn schließlich den Gedanken an Schlaf ganz aufgeben. Er wusch sich das Gesicht in der Schüssel mit kaltem Wasser neben seinem Bett, und als er sich abtrocknete, spürte er, wie seine Entschlußkraft zurückkehrte. Er war einen ganzen Tag sich selbst überlassen geblieben, nachdem ihn der alte Coba in seine Burg gebracht hatte. Er konnte sich frei bewegen, doch nur innerhalb der Wälle, und es waren immer Wachposten in der Nähe, die ihm ganz knapp antworteten und es höflich ablehnten, auf seine Fragen näher einzugehen. Als er gebeten hatte, mit Coba sprechen zu dürfen, hörte er, daß der Fürst ihn nicht empfangen könne. Er war zwar gut verpflegt worden, aber es störte ihn, daß ihm niemand erklärte, was vor sich ging. Er wollte Bescheid wissen.
Warum hatte Coba ihm Zuflucht gewährt? Wußte Fidelma, wohin man ihn gebracht hatte und wie seine Stellung nach dem Gesetz war? Eadulf hatte zwar schon von diesem maighin digona gehört, war sich aber nicht sicher, ob er es richtig verstanden hatte, obgleich er wußte, daß die Einrichtung der Freistätte ein alter Brauch war. Coba hatte ihm gesagt, er sei nur mit der verhängten Strafe nicht einverstanden, weil sie nicht mit den Gesetzen der Fenechus übereinstimmte. Aber würde ein Mann sich wirklich gegen seinen König und die höchsten Autoritäten im Lande auflehnen und ihnen zum Trotz sogar einen Ausländer aus der Todeszelle befreien? Eadulf fühlte sich unsicher und mißtraute den Motiven des Fürsten.
Wie als Antwort auf seine Überlegungen gab es ein Geräusch vor seiner Tür, und sie wurde geöffnet. Eadulf warf das Handtuch auf das Bett und sah sich einem kleinen, drahtigen Mann mit spitzem Gesicht gegenüber, den er noch nie zuvor erblickt hatte.
»Ich hab gehört, du verstehst unsere Sprache, Angelsachse«, sagte der Mann knapp.
»Ich kenne sie«, gab Eadulf zu.
»Das ist gut.« Der Mann hielt es offensichtlich mit der Kürze. »Du kannst gehen.«
Eadulf stutzte und wußte nicht, ob er ihn richtig verstanden hatte. »Gehen?«
»Ich soll dir sagen, daß du frei bist und die Burg verlassen kannst. Wenn du zum Fluß hinuntergehst, findest du dort eine Nonne aus Cashel, die auf dich wartet.«
Eadulfs Herz schlug schneller, und seine Miene hellte sich auf. »Fidelma? Schwester Fidelma?«
»So heißt sie, hat man mir gesagt.«
Eadulf fühlte sich von einer Woge der Erleichterung und Freude erfaßt. »Dann hat sie meinen Freispruch erwirkt? Sie hat die Berufung gewonnen?«
Die Miene des Mannes mit dem spitzen Gesicht blieb unbewegt. Seine tiefliegenden Augen verrieten nichts.
»Ich habe nur den Auftrag, dir mitzuteilen, was ich dir schon gesagt habe. Mehr weiß ich nicht.«
»Dann, mein Freund, verlasse ich dich mit meinen Segenswünschen. Aber was ist mit dem Fürsten? Wie kann ich ihm für die Freundlichkeit danken, daß er mich hergebracht hat?«
»Der Fürst ist nicht hier. Es ist nicht nötig, ihm zu danken. Geh schnell und still. Deine Freundin wartet.«
Der Ton des Mannes blieb ausdruckslos. Er trat zur Seite und machte keine Miene, Eadulfs ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Eadulf zuckte die Achseln und sah sich in dem Zimmer um. Er hatte nichts mitzunehmen. Alle seine Habseligkeiten befanden sich in der Abtei.
»Dann sag deinem Fürsten, daß ich ihm großen Dank schulde und dafür sorgen werde, ihn abzutragen.«
»Wie du meinst«, erwiderte der Mann mit dem Fuchsgesicht.
Eadulf verließ das Zimmer, und der Mann folgte ihm nach draußen. Die Burg lag anscheinend verlassen im kühlen weißen Licht der herbstlichen Morgendämmerung. Der Tau machte den Boden schlüpfrig und das Gehen in den Ledersandalen schwierig. Der Atem stand wie Rauch in der Luft, und er merkte, wie kalt es schon war.
»Kann mir jemand einen Mantel borgen?« fragte er freundlich. »Es ist kalt, und mein Mantel wurde in der Abtei beschlagnahmt.«
Sein Begleiter schien ungeduldig.
»Deine Gefährtin hat Kleidung für die Reise. Zögere nicht. Sie verliert sonst die Geduld.«
Sie hatten das Tor der Burg erreicht. Dort stand ein zweiter Mann auf Wache. Er schob die hölzernen Riegel zurück und stieß die Torflügel auf.
»Kann ich nicht irgend jemandem dafür danken, daß man mir hier Zuflucht gewährte?« Eadulf empfand es als ungehörig, die Burg auf diese Weise zu verlassen.