Sein Begleiter schien zu einer scharfen Erwiderung anzusetzen, doch dann zuckte ein eigenartiges Lächeln über sein leichenhaftes Gesicht.
»Du wirst ihm bald dafür danken können, Angelsachse.«
Das Tor war nun offen.
»Deine Freundin erwartet dich unten am Fluß«, wiederholte der Mann. »Du kannst jetzt gehen.«
Eadulf hielt ihn für einen ungehobelten Kerl, lächelte ihm aber dankbar zu und eilte durch das Tor hinaus. Vor ihm senkte sich der Weg von dem kleinen Hügel, auf dem die Burg stand, in Windungen hinab zu einem Wäldchen, durch das man das graue Band des Flusses in wenigen hundert Metern Entfernung schimmern sah.
Er blieb stehen und blickte zurück zu dem Mann am Tor.
»Geradeaus hinunter? Wartet Schwester Fidelma dort unten?«
»Da unten am Fluß«, gab der Mann zurück.
Eadulf schlug den mit Reif bedeckten Weg ein. Er war glatt, aber die Mitte des Weges war von den Hufen der Pferde in einen Morast verwandelt worden. Deshalb lief er an der schrägen Seite des Weges und wurde dadurch schneller, als er wollte. Gleich darauf trat das Unvermeidliche ein. Er glitt aus und fiel hin.
Das rettete ihm das Leben.
Als ihm die Beine wegrutschten und er hintenüberschlug, sausten zwei Pfeile an ihm vorbei. Einer bohrte sich mit hartem Laut in einen nahen Baum.
Einen Augenblick starrte Eadulf verblüfft auf die Pfeile. Dann rollte er sich auf die Seite und blickte zurück.
Der Mann mit dem spitzen Gesicht, der ihm gesagt hatte, er solle gehen, war dabei, einen neuen Pfeil auf die Sehne zu legen. Neben ihm stand der zweite Mann, der wie ein berufsmäßiger Bogenschütze aussah, denn er war schon bereit zum zweiten Schuß. Eadulf rollte sich wieder zur Seite, dann sprang er unbeholfen auf und stürzte sich ins Unterholz. Mit leisem Zischen flog der Pfeil an ihm vorbei.
Dann rannte er, rannte um sein Leben. Er überlegte nicht, wie und warum, er versuchte sich nichts zu erklären. Ein tierhafter Instinkt der Selbsterhaltung verdrängte alles Denken. Er stürmte durch den Wald, und in einem Winkel seines Hirns sprach er ein kleines Dankgebet dafür, daß der Wald zumeist aus immergrünen Bäumen und Sträuchern bestand, die ihn vor seinen Angreifern verbargen. Aber der Reif war nicht auf seiner Seite. Er wußte, daß er Spuren hinterließ, und betete, die Sonne möge aufgehen und den Reif wegtauen. Sonst mußte er ein Stück Boden finden, auf das kein Reif gefallen war.
Folglich schlug er die Richtung zum Fluß ein. Er wußte, daß in der Nähe von fließendem Wasser die Luft manchmal wärmer war. Würde Fidelma dort sein und auf ihn warten?
Er lachte spöttisch auf.
Natürlich nicht. Es war einfach eine List, um ihn zu töten. Aber warum? Plötzlich fiel ihm ein, daß diese Männer ja das Gesetz auf ihrer Seite hatten. Wie lautete die Bestimmung des maighin digona? Er hatte Schutz erhalten unter der Bedingung, daß er sich innerhalb der Grenzen des Landes des Schutzgewährenden aufhielt. Der Besitzer der Zufluchtsstätte durfte einen Flüchtling nicht entkommen lassen, sonst haftete er selbst für das ursprüngliche Vergehen.
Eadulf stöhnte entsetzt auf, während er durch das Buschwerk lief. Er war auf einen Trick hereingefallen. Man hatte ihm gesagt, er könne gehen, aber jetzt konnte er als ein Flüchtling niedergeschossen werden, der das Gesetz über die Freistätte gebrochen hatte. Er hatte ihnen die gesetzliche Möglichkeit gegeben, ihn zu töten, aber wer waren sie? War es eine List Cobas, der ihn töten wollte? Doch warum hatte er ihn dann vorher befreit? Es ergab keinen Sinn.
Er kam ans Flußufer, und wie er angenommen hatte, war die Luft hier am Wasser wärmer, und der Reif verschwand. Die blasse Sonne stieg am Himmel empor und würde den Reif bald aufsaugen. Er blieb stehen und lauschte: Er konnte seine Verfolger hören. Er eilte am Ufer entlang und suchte nach einem Versteck. Er wußte, daß die Verfolger gleich aus dem Wald hervorbrechen würden. Er durfte nicht länger am Ufer bleiben.
Vor sich erblickte er einige kleine Wacholderbüsche und daneben ein dichtes Gehölz von Stechpalmen, deren dicke, wachsglänzende grüne Blätter in schmalen, konischen Formen aufstrebten. Einige dieser Bäume zeigten mit ihren roten Beeren ihr weibliches Geschlecht an. Eadulf wußte, daß die scharfen Dornen der unteren Blätter, von der Natur zum Schutz des Baumes vor äsenden Tieren bestimmt, ihm weh tun würden, aber es war kein anderes Versteck in Sicht.
Jetzt konnte er hören, wie die beiden Männer, die seine Spur verfolgten, einander zuriefen. Sie waren dicht herangekommen. Eadulf verließ das Ufer und sprang in den Schutz der Wacholder, ließ sich fallen und schob sich in die unbequeme Deckung der Stechpalmen. Er legte sich flach auf den harten kalten Boden und spürte, wie sein Herz vor Anstrengung wild schlug. Aus dieser Lage konnte er ein kleines Stück des Ufers überblicken und sah, daß seine Verfolger dort anhielten.
»Gott verfluche diesen hinterlistigen Angelsachsen!« erklärte der Mann mit dem spitzen Gesicht.
Sein Gefährte schaute sich um. Seine Stimme klang verdrossen. »Er kann hier lang oder da lang gegangen sein, Gabran. Den Fluß rauf oder runter. Du mußt dich entscheiden.«
»Gott verderbe ihn!«
»Das ist keine Antwort. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir warten mußten, bis er aus der Burg heraus war, ehe wir ihn abschossen. Warum konnte man ihn denn nicht umbringen, als er schlief?«
»Weil, mein lieber Freund Dau«, erklärte ihm der andere ironisch, »es so aussehen mußte, als ob er aus der Freistätte geflohen wäre, deshalb! Also mußten wir ihn in aller Stille aus Cobas Burg herausbringen, ehe die anderen wach wurden. Den Tod des Wachmanns, den ich erledigen mußte, wird man dem Angelsachsen zuschreiben. Noch ein Mord auf seiner Rechnung. Also, jetzt gehst du den Fluß rauf, und ich suche den Fluß runter. Mein Schiff ist da unten vertäut. Ich muß es noch vor dem Mittag hier raufbringen. Das alles gefällt mir nicht. Solange der Angelsachse lebt, ist er eine Gefahr für das ganze System. Es wäre das beste gewesen, wenn man ihn in der Abtei gehängt hätte.«
Der Mann mit dem spitzen Gesicht verließ seinen Gefährten und ging rasch am Ufer entlang, wobei er den Boden nach Eadulfs Spuren absuchte. Der andere blieb eine Weile stehen und musterte die Umgebung, dann schritt er langsam in die andere Richtung. Plötzlich blieb er stehen. Eadulf bewegte sich unruhig. Hatte der Mann die Stelle entdeckt, an der er vom Ufer weg zwischen die Wacholderbüsche gesprungen war?
Verzweifelt sah er sich nach einer Waffe um. In der Nähe lag ein weggeworfener Schwarzdornknüppel. Eadulf langte vorsichtig hin und holte ihn mit den Fingern heran. Dann packte er ihn fest und stand leise auf, wobei er die scharfen Blätter der Stechpalmen zu vermeiden suchte.
Der Krieger, der mit dem Namen Dau angeredet worden war, hielt seinen Bogen und einen Pfeil in der einen Hand und schaute sich um, als suche er Spuren.
In diesem Augenblick wurde es Eadulf klar, daß er keine Wahl hatte. Der Mann wollte ihn töten. Er wußte nicht, warum, aber das spielte auch keine Rolle. Er hatte die Aufgabe, sein eigenes Leben zu retten. Eadulf bewegte sich vorsichtig und versuchte sich an das zu erinnern, was er als Junge von seinem Vater auf der Jagd in seinem eigenen Land gelernt hatte, im Lande des Südvolks. Zentimeterweise schob er sich an den verflochtenen Zweigen vorbei um die Stechpalmen herum und durch die Wacholderbüsche von hinten an seinen Gegner heran. Bei jedem Schritt meinte er, der andere müsse ihn hören.
Der Bogenschütze blickte unschlüssig auf die Bäume und Sträucher, während Eadulf mit erhobenem Knüppel in beiden Fäusten an ihn heranschlich. Ein blitzschneller Schlag genügte, um ihn zu fällen. Mit einem kaum wahrnehmbaren Grunzen brach er zusammen. Einen Moment stand Eadulf über den Regungslosen gebeugt, bereit, noch einmal zuzuschlagen. Doch der rührte sich nicht mehr.
»Vergib mir, denn ich habe gesündigt«, murmelte er und bekreuzigte sich. Er kniete sich bei dem Bewußtlosen hin, zog ihm die Lederstiefel aus und warf sie mit dem Bogen und dem Köcher samt den Pfeilen in den Fluß. Das Jagdmesser steckte er in den eigenen Gürtel. Er nahm ihm auch den Schaffellmantel ab, denn den würde er selbst brauchen, sobald er das offene Gelände erreichte. Wenn der Bogenschütze wieder zu sich käme, würde er eine Weile nicht an Verfolgung denken, nicht ohne Stiefel, Mantel und Waffen. Eadulf blickte zum Himmel auf und versuchte sich an die Worte aus dem ersten Brief des Johannes zu erinnern: »So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht.« Er hoffte, die himmlischen Mächte würden seine Taten verstehen.