Dann erhob er sich, warf sich den schweren Mantel um die Schultern und marschierte auf die Berge zu. Er wußte nicht recht, wohin er sich wenden sollte. Bevor er sich für ein endgültiges Ziel entschied, wollte er aber eine hinreichende Entfernung zwischen sich und die Burg von Cam Eolaing legen. Ihm war natürlich klar, daß Fidelma nichts mit diesem seltsamen Plan zu seiner Ermordung zu tun hatte. Es wäre wahrscheinlich eine Zeitverschwendung, jetzt nach ihr zu suchen. Vielleicht war es das beste, wenn er sich nach Osten zur Küste wandte und versuchte, ein Schiff zu finden, das ihn nach Wessex oder in ein anderes der angelsächsischen Königreiche brachte? Nun, darüber konnte er noch lange nachdenken. Erst brauchte er eine Unterkunft und Verpflegung, bevor er Entschlüsse fassen konnte.
Fidelma blickte auf, als es an der Tür klopfte. Es war Lassar, die Gastwirtin. Sie sah müde und nervös aus.
»Der Brehon, Bischof Forbassach, ist wieder da. Er möchte dich sprechen.«
Fidelma hatte sich gerade angekleidet und wollte zum Frühstück in den Hauptraum hinuntergehen.
»Nun gut. Ich komme sofort«, erklärte sie.
Unten am Kamin, von Lassar bedient, saß nicht nur der Brehon von Laigin, Bischof Forbassach, sondern auch der alte, weißhaarige Coba, der bo-aire von Cam Eolaing. Sie bemühte sich, ihr Erstaunen über sein Erscheinen an diesem Morgen im Gasthaus zu verbergen. Dann bemerkte sie noch einen dritten Mann am Kamin, einen gestrengen alten Herrn mit hagerem Gesicht und vorspringender Nase. Er trug reiche Mönchskleidung und ein verziertes goldenes Kruzifix an einer Kette um den Hals. Er begrüßte Fidelma kühl und unfreundlich.
»Abt Noe.« Fidelma neigte den Kopf. »Ich dachte noch gestern abend daran, ob ich dich während meines Aufenthalts in Fearna wohl sehen würde.«
»Ich hatte leider eine unaufschiebbare Verabredung, Fidelma.«
»Gewiß«, erwiderte sie trocken und wandte sich an Forbassach. »Willst du mein Zimmer wieder nach Bruder Eadulf absuchen? Ich kann dir versichern, daß er nicht dort ist.«
Bischof Forbassach räusperte sich verlegen.
»Ich bin im Gegenteil gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen, Schwester Fidelma.«
»Entschuldigen?« Ihr Ton war ungläubig.
»Ich fürchte, ich habe neulich nachts voreilig falsche Schlüsse gezogen. Jetzt weiß ich, daß du nicht dem Angelsachsen zur Flucht verholfen hast.«
»Wirklich?« Fidelma wußte nicht, ob sie das lustig oder bedenklich finden sollte.
»Ich muß gestehen, daß ich es war, der diese Flucht ermöglichte, Schwester Fidelma.«
Fidelma fuhr herum zu Coba, der das langsam und mit gewissem Bedauern ausgesprochen hatte.
»Warum solltest du Bruder Eadulf helfen?« fragte sie erstaunt.
»Ich bin heute morgen von Cam Eolaing hergekommen, um meine Tat zu bekennen. Ich traf Abt Noe, der in die Abtei zurückgekehrt war, in einer Unterredung mit Bischof Forbassach. Wir besprachen den Fall und kamen mit, um Forbassach in seiner Entschuldigung bei dir zu unterstützen.«
Fidelma hob hilflos die Arme. »Das verstehe ich nicht.«
»Ach, es war alles ganz einfach. Du weißt schon, was ich von der Bestrafung nach den Bußgesetzen halte. Ich konnte nicht dabeistehen und zusehen, wie eine weitere dieser Strafen vollzogen würde, wenn ich behaupte, daß sie den Grundlagen unseres Rechtssystems widersprechen.«
»Ich teile deine Besorgnisse«, erklärte Fidelma. »Aber wie kamst du dazu, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen und Eadulf zur Flucht zu verhelfen?«
»Wenn ich falsch gehandelt habe, werde ich dafür bestraft.«
Bischof Forbassach sah ihn finster an. »Du wirst Schadenersatz für diese Tat leisten müssen, Coba, und deinen Sühnepreis verlieren. Du kannst auch keine richterlichen Befugnisse in diesem Königreich mehr ausüben.«
Fidelma wollte endlich wissen, ob ihre Vermutung, daß Coba Eadulf Schutz gewährt hatte, richtig war.
»Was ist mit Bruder Eadulf geschehen?«
Coba sah Abt Noe unsicher an.
»Es wäre klug, wenn du Schwester Fidelma alles erzählst«, riet ihm der Abt barsch.
»Nun, da ich gegen diese Art von Bestrafung bin, beschloß ich, dem Angelsachsen Zuflucht zu gewähren - das maighin digona meiner Burg ...«
»Zufluchtgewährung schließt aber nicht die Hilfe zur Flucht aus Einkerkerung ein«, murrte Forbassach.
»Innerhalb meiner Burg gilt trotzdem das Recht der Freistätte«, hielt Coba dagegen.
Fidelma erwog den Streitfall.
»Das stimmt. Im allgemeinen findet zwar die Person, die eine Freistätte sucht, den Ort des maighin digona von sich aus, ehe sie um Schutz bittet. Doch das Recht der Freistätte gilt, sobald sie das Gebiet des Fürsten erreicht, der bereit ist, es zu gewähren. Bestätigst du meine Vermutung, daß Bruder Eadulf zur Zeit den Schutz deiner Burg als Freistätte genießt?«
Sie empfand Zuversicht bei dem Gedanken, daß Eadulf in Cobas Burg sicher aufgehoben sei und dort bleiben könne, bis Barran einträfe. Cobas düstere Miene ließ ihre Hoffnungen aber wieder sinken.
»Ich hatte den Angelsachsen über die Bedingungen der Freistätte unterrichtet. Ich dachte, er hätte sie verstanden.«
»Die Bedingungen lauten, daß er im Bereich der Festung zu bleiben hat und keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen darf«, erklärte Bischof Forbassach pedantisch, denn Fidelma waren diese Einschränkungen natürlich bekannt. »Versucht er zu fliehen, hat der Besitzer der Freistätte das Recht, ihn niederzumachen, um sein Entkommen zu verhindern.«
Das Blut in Fidelmas Adern schien zu erstarren. »Was willst du damit sagen?«
»Als ich heute morgen aufstand, war der Angelsachse nicht in seinem Zimmer zu finden«, stellte Coba ruhig fest. »Das Tor der Burg stand offen, und er war fort. Einer meiner Männer lag neben dem Tor. Er war tot, von hinten erschlagen worden. Ich stelle nachts nur zwei Wachposten auf, denn die Burg von Cam Eolaing ist noch nie angegriffen worden. Der andere Wachposten, Dau, wurde später bewußtlos am Fluß gefunden. Man hatte ihm den Mantel, die Stiefel und die Waffen abgenommen. Als er wieder zu sich kam, berichtete er meinen Leuten, daß er den Angelsachsen verfolgt hatte und ihn wieder einfangen wollte. Am Flußufer wurde er von hinten niedergeschlagen. Es ist klar, daß der Angelsachse versucht, in das offene Land zu fliehen.«
Bischof Forbassach nickte ungeduldig. Er hatte die Geschichte schon vorher von Coba gehört.
»Es war töricht von Coba, zu glauben, der Angelsachse besitze auch nur eine Spur von Moral und würde sich an die Regeln der Freistätte halten. Er wird nach Osten zum Meer und dann zu Schiff in sein Land gelangen wollen.«
Er wandte sich an Fidelma und wurde wieder verlegen.
»Ich möchte dir sagen, wie leid es mir tut, daß ich glaubte, du wärst an seiner ersten Flucht beteiligt. Ich möchte es ebenso gegenüber deinem Bruder, dem König von Cashel, klarstellen, daß ich mich für jede Kränkung bei dir entschuldigt habe. Ich möchte dich aber auch wissen lassen, daß der Angelsachse sich jetzt selbst die Schlinge um den Hals gelegt hat.«
Fidelma war in Gedanken und hatte nur den Schluß des Satzes erfaßt.
»Wie?«
»Es ist doch klar, daß er aus Cam Eolaing geflohen ist, weil er schuldig ist.«