»Die Äbtissin wußte gestern abend, daß Eadulf in deine Burg gebracht worden war?« unterbrach ihn Abt Noe.
»Ich sagte doch schon«, wiederholte Coba, »daß ich die Vorschriften des Gesetzes ganz sorgfältig befolgte. Ich bin sicher, daß der Angelsachse sie verstanden hat. Ich wünschte nur, ich könnte dir in dieser Sache einen besseren Trost bieten, Schwester.«
Abt Noe murmelte: »Ignorantia legis neminem excusat. «
Coba sah ihn an. »Aber Unkenntnis des Gesetzes kann doch bei einem Ausländer als mildernder Umstand geltend gemacht werden?«
»Es sieht Eadulf nicht ähnlich, so etwas zu tun«, sagte Fidelma leise, fast zu sich selbst.
Abt Noes Miene blieb hart.
»Deiner Meinung nach, Schwester, sieht es dem Angelsachsen auch nicht ähnlich, eine junge Novizin vergewaltigt und ermordet zu haben. Vielleicht kennst du diesen Angelsachsen doch nicht so gut, wie du gern glauben möchtest?«
Fidelma hob den Kopf und schaute ihrem alten Widersacher in die Augen.
»Vielleicht ist daran etwas Wahres«, gab sie zu. »Aber wenn nichts Wahres daran ist, wie ich meine, dann gehen an diesem Ort merkwürdige Dinge vor sich. Ich habe vor, diese Angelegenheit in allen Einzelheiten aufzuklären.«
Der Abt lächelte humorlos.
»Das Leben ist wirklich seltsam, Schwester. Es ist der Kessel Gottes, in den wir geworfen werden, um unsere Seelen zu prüfen. Ignis aurum probat, miseria fortes viros.«
»Das Feuer prüft das Gold, das Unglück die Starken«, wiederholte Fidelma leise. »In diesen Worten Senecas steckt viel Weisheit.«
Abt Noe stand plötzlich auf und trat Fidelma gegenüber. Mit bewegter Miene sah er sie an.
»Wir sind schon früher aneinandergeraten, Fidelma von Cashel«, sagte er leise.
»So war es«, stimmte sie ihm zu.
»Von der Schuld oder Unschuld deines angelsächsischen Freundes ganz abgesehen, sollst du wissen, daß mir die Kirche in diesem Lande am Herzen liegt und ich nicht will, daß sie Schaden nimmt. Äbtissin Fain-der kann ihr Eintreten für die Bußgesetze manchmal übertreiben. Sie ist eine Eiferin, wenn du so willst. Ich sage das, obgleich sie eine entfernte Kusine von mir ist.«
Diese Feststellung ließ Fidelma überrascht aufblicken.
»Äbtissin Fainder ist deine Kusine?«
»Natürlich, aus diesem Grunde ist sie ja auch geeignet, die Abtei zu leiten. Sie betrachtet jedenfalls alles unter dem Gesichtspunkt richtig oder falsch, weiß oder schwarz, ohne Verständnis für die feinen Schattierungen von Grau. Du und ich, wir beide wissen, daß das Leben nicht nur aus diesen beiden Extremen besteht.«
Fidelma sah ihn stirnrunzelnd an.
»Ich weiß nicht genau, was du damit meinst, Pater Abt. Wenn ich mich recht erinnere, warst du nie ein Anhänger der römischen Kirche.«
Der Abt mit dem schmalen Gesicht seufzte und neigte den Kopf.
»Ein Mensch kann durch Argumente überzeugt werden«, gestand er. »Ich habe viele Jahre über diese Dinge nachgedacht. Ich habe die Debatten in Whitby sehr genau verfolgt. Ich glaube, daß Christus die Schlüssel des Himmels an Petrus übergab und daß Petrus die Kirche in Rom aufbaute, wo er auch den Märtyrertod starb. Daraus mache ich kein Hehl. Was ich meine, ist, daß Menschen verschiedene Wege wählen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Manchmal müssen die Menschen durch Argumente überzeugt werden und nicht durch Befehle. Ich wurde dadurch überzeugt, daß ich jahrelang alles erwogen habe. Andere sollten denselben Weg gehen und nicht durch Anordnungen gezwungen werden, sich zu ändern. Leider bin ich nur eine einzelne Stimme im Rat.«
Er verließ das Gasthaus ohne ein weiteres Wort.
Coba sah etwas verwirrt aus, dann schaute er Fidelma an.
»Ich muß zu meiner Burg zurück. Ich habe die Suche nach dem Angelsachsen in die Wege geleitet. Es tut mir leid um deinen Freund, Schwester. Ich habe versucht zu helfen, aber damit alles nur schlimmer gemacht. Es gibt ein altes Sprichwort, daß man sich von einem vom Unglück verfolgten Menschen fernhalten sollte. Vielleicht wäre es gut, wenn wir das beachteten. Es tut mir wirklich leid, daß alles so gekommen ist.«
Als er gegangen war, vernahm Fidelma ein leises Hüsteln hinter sich.
Dego und Enda waren auch heruntergekommen.
»Habt ihr alles gehört?« fragte sie.
»Nicht alles«, gestand Dego, »aber genug, um zu wissen, daß der alte Coba Bruder Eadulf Zuflucht gewährte und er jetzt aus der Freistätte geflohen ist. Das ist nicht gut.«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete Fidelma ernst.
»Was ist mit Gabran?« wollte Enda wissen. »Was wurde von ihm gesagt?«
Fidelma wiederholte rasch das Wesentliche über den Flußschiffer.
Das Frühstück wurde zum größten Teil schweigend eingenommen. Es war niemand weiter im Gasthaus, jedenfalls kam niemand sonst zum Frühstück herunter, solange sie da waren.
Kapitel 14
Es war Mittag, und Eadulf spürte den nagenden Hunger. Es war noch sehr kalt, doch der Reif war verschwunden, und die Morgensonne verbreitete dort eine angenehme Wärme, wo es keinen Schatten gab. Doch das täuschte, denn sobald sich eine Wolke vor die Sonne schob oder ein hoher Baum sie verdeckte, machte sich die Kälte deutlich bemerkbar. Eadulf zog den Mantel um die Schultern zusammen und dankte Gott, daß er daran gedacht hatte, ihn seinem Angreifer abzunehmen.
Er war dem Verlauf des breiten Flusses ungefähr einen Kilometer weit durch ein Tal nach Norden gefolgt, weg von Cam Eolaing, bis der Fluß schmaler wurde. An allen Seiten erhoben sich Berge, schwarze und trotz der fahlen Sonne düstere Gipfel. Ein Stück weiter kam er an eine merkwürdige Wasserkreuzung. Von beiden Seiten, wenn auch nicht genau an derselben Stelle, mündeten zwei schäumende kleine Bächlein in den Fluß. Der eine kam von Südosten, der andere von Westen durch kleine Täler aus den umgebenden Bergen herab.
Eadulf sah sich vorsichtig um, bevor er sich entschloß, eine Weile zu rasten. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baum, dessen Stamm im hellen Sonnenlicht lag.
»Jetzt ist es Zeit, sich zu entscheiden«, murmelte er vor sich hin. »In welche Richtung soll ich gehen?«
Wenn er den Fluß überquerte und durch das östliche Tal wanderte, würde er vermutlich irgendwann das Meer erreichen. Es konnte nicht mehr als zehn Kilometer entfernt sein. An der Küste könnte er auf einem Schiff, das in seine Heimat fuhr, in Sicherheit gelangen. Es war sehr verlockend, diesen Weg einzuschlagen, ein Schiff zu finden und Laigin zu verlassen - aber zuallererst dachte er an Fidelma.
Fidelma war in aller Eile von ihrer Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Jakobus zurückgekehrt, sobald sie von seinen Schwierigkeiten gehört hatte, und sie war hergekommen, um ihn zu verteidigen. Er konnte sie jetzt nicht verlassen, sie ohne Abschied verlassen, sie in dem Glauben lassen, daß er nicht ... Er stutzte. Im Glauben lassen, daß er was nicht? Die Vielfalt seiner eigenen Gedanken verwirrte ihn. Dann kam er zu einem Entschluß. Fidelma war noch in Fearna. Er hatte keine Wahl, er mußte zurück und sie suchen.
»Ut fata trahunt!« murmelte er und stand auf. Der lateinische Satz bedeutete wörtlich »wie einen das Schicksal zieht« und war das Eingeständnis, daß der Mensch sein eigenes Geschick nur sehr begrenzt bestimmt. Nur so konnte er die Entscheidung erklären, die anscheinend für ihn getroffen worden war.
Er wandte sich um und ging an dem Bach entlang, seinem brausenden Lauf entgegen auf die Berge zu. In ein paar Kilometern Entfernung wurden die Gipfel steiler und schienen eine Barriere zu bilden. Er hatte keinen Plan, er wußte nicht, wie er mit Fidelma in Verbindung treten sollte, wenn er wieder in Fearna war. Ja, nachdem Fidelma von seinem Entweichen aus der Abtei gehört hatte, könnte sie Fearna schon verlassen haben. Dieser Gedanke nagte an ihm. Doch er konnte nicht fort, ohne den Versuch unternommen zu haben, sie zu erreichen. Er überließ es der Gnade des Schicksals.