Ein Stück vor ihm stand ein Mann dicht neben dem Weg.
»Komm her!« schrie der Mann. »Ich warte schon auf dich.«
Fidelma und ihre Gefährten waren eine Stunde das Nordufer des Flusses entlanggeritten, als Dego die Zügel anzog und aufgeregt nach vorn zeigte.
»Das muß die Cag sein! Seht euch das Schiff an, das an der Anlegestelle dort hinter den Bäumen vertäut ist.«
Fidelma kniff die Augen zusammen. Nicht weit vor ihnen stand eine kleine Gruppe von Bäumen, und ein großes Flußschiff lag an dem Holzkai daneben. Dort war ein Pferd angebunden. Fidelma erkannte es sofort.
»Das ist das Pferd der Äbtissin Fainder«, erklärte sie ihren Begleitern.
»Dann gehe ich davon aus, daß wir Gabran endlich gefunden haben«, meinte Enda.
Die drei Reiter bewegten sich im Schritt weiter und hielten dort, wo das Pferd der Äbtissin friedlich graste. Der Holzkai war das einzige Zeichen von Zivilisation an der Stelle, in der Nähe gab es anscheinend weder Häuser noch andere Wohnstätten. Es war ein seltsam öder Platz.
Von der Cag kam kein Laut, und nichts bewegte sich. Fidelma fragte sich, wo die Mannschaft wohl wäre. Sie vermutete, alle befänden sich unter Deck und hätten ihre Ankunft nicht bemerkt. Sie banden ihre Pferde an, und Fidelma ging voran auf das Schiff. Es war ein langes Flachboot für die reine Flußschiffahrt, die offene See wäre zu stürmisch und gefahrvoll.
Fidelma blieb auf dem Deck stehen. Die Stille wirkte unnatürlich.
Vorsichtig schritt sie zu der Hauptkajüte, die zu dem erhöhten Achterschiff gehörte. Ihre Tür ging auf das Deck hinaus. Sie wollte schon klopfen, da hörte sie von innen ein schwaches Geräusch. Sie ahnte Schlimmes.
Mit einem warnenden Blick zu Dego und Enda faßte sie die Klinke, drückte sie sanft hinunter und riß die Tür auf.
Nichts hatte sie auf das Bild vorbereitet, das sich ihr drinnen bot.
Es gab viel Blut in der düsteren Kajüte. Die dunklen Flecken stammten von dem Leichnam, der auf dem Boden lag. Aber es war die Gestalt, die neben dem Kopf kniete, vor der sie sich entsetzte. Eine Gestalt mit einem blutigen Messer in der Hand.
An der Kleidung hätte Fidelma den Toten erkannt, auch wenn die im Todeskampf verzerrten Züge ihr nicht vertraut gewesen wären. Es war Gabran, der Kapitän der Cag. Aber die Gestalt, die ihm zu Häup-ten kniete, mit der Mordwaffe in der Hand, und jetzt in angstvollem Schrecken zu ihr aufblickte, war die Äbtissin von Fearna - Äbtissin Fainder.
Kapitel 16
»Komm her. Ich warte schon auf dich!« wiederholte der Mann, sprang von dem Felsen herab und kam auf Eadulf zu.
Erschrocken blieb Eadulf wie angewurzelt stehen und musterte den Mann, der auf einem Felsen oberhalb des Weges vor ihm gestanden hatte. Er war in grobe ländliche Tracht gekleidet. Seine gebräunte, wettergegerbte Haut kündete von einem Leben an freier Luft. Er hatte ein schweres Lederwams über seine dicke wollene Jacke gezogen, und seine derben Stiefel waren von der Art, wie Bauern sie trugen.
Eadulf wußte nicht, ob er fliehen oder sich stellen und zur Verteidigung bereitmachen sollte. Weiter hinten auf dem Weg sah er einen Karren mit einem schon angeschirrten Pferd davor und erkannte, daß Flucht zwecklos war. Er spannte die Muskeln zum Kampf an.
Der Mann blieb stehen und starrte ihn verärgert an.
»Wo ist Gabran? Ich dachte, diesmal käme er selber?«
»Gabran?« Eadulf sah sich unsicher um. »Er ist zurückgegangen zu seinem Schiff«, erklärte er wahrheitsgemäß. Das hatte er schließlich den Flußschiffer zu Dalbach sagen hören.
»Zurück zum Fluß?« Der Mann vor ihm spuckte neben den Weg. »Und hat es dir wohl überlassen, hier raufzukommen und die Ware abzuholen?«
»Er hat es mir überlassen, hier raufzukommen«, wiederholte Eadulf und blieb damit weiter bei der Wahrheit.
»Ich stehe schon seit zwei Stunden hier rum. Es ist kalt, und ich wußte nicht mehr, ob er mich hier bei Darach Carraig oder bei Dalbachs Hütte treffen wollte. Na, jedenfalls bist du jetzt hier.«
»Gabran hat mir nicht gesagt, daß ich früher hier sein sollte.« Eadulf faßte plötzlich Mut, denn das mußte wohl der Mann mit der Ware sein, den Gabran suchte, als er vorhin zu Dalbachs Hütte gekommen war. Anscheinend hatte der Mann die fast gleichen Namen Darach und Dalbach durcheinandergebracht.
»Sieht ihm ähnlich, anderen Leuten die Arbeit zu überlassen«, knurrte der Mann. Dann runzelte er die Stirn. »Du bist Ausländer, nicht wahr?«
Eadulf spannte sich leicht.
»Angelsachse, das höre ich an deinem Akzent«, fuhr der Mann mißtrauisch fort. Dann zuckte er die Achseln. »Na, kann mir egal sein. Ich nehme an, du bringst die Ware den ganzen Weg von hier bis ins Land der Angelsachsen, was?«
Eadulf beschränkte sich auf ein paar unverständliche Laute.
»Na«, redete der Mann weiter, »es ist kalt und spät, und ich will mich nicht länger hier rumtreiben als unbedingt nötig. Diesmal sind’s bloß zwei. Ich glaube, in Zukunft muß ich mich weiter weg umtun. Du hast wohl deinen Karren unten am Berg gelassen? Hat dir Gabran nicht gesagt, daß der Weg bis hier oben rauf befahrbar ist? Na, es geht auch so, weil’s bloß zwei sind. Ich treffe Gabran in Cam Eolaing, wenn er von der Küste zurückkommt, aber wenn du ihn siehst, dann sag ihm, es wird schwierig. Bezahlen kann er mich, wenn er zurück ist. Doch der Preis wird höher.«
Eadulf nickte wie zur Zustimmung. Weiter blieb ihm nichts übrig bei diesem absurden, verwirrenden Gespräch.
»Bist in Ordnung. Sie sind in der Höhle wie immer. Gabran hat dir erklärt, wo sie ist?«
Eadulf zögerte und schüttelte den Kopf. »Nicht genau«, sagte er.
Der Mann stöhnte ungeduldig, drehte sich um und zeigte ihm die Richtung. »Diesen Weg zweihundert Meter weiter, Freund. Rechts oben am Berg siehst du die kleine Felswand, die Granitklippe. Die Öffnung der Höhle kannst du nicht verfehlen. Da drin ist die Ware.«
Der Mann blickte zum Himmel auf und zog den Kragen fester zu. »Bald wird’s regnen, vielleicht mit Graupel bei dieser Kälte. Ich muß los. Vergiß nicht, Gabran zu berichten, was ich dir gesagt habe. Es wird schwierig.«
Er ging zu seinem Karren und kletterte rasch auf den Sitz. Er zog an den Leinen und lenkte das Gefährt auf einen schmalen, fast nicht erkennbaren Weg, der nach Osten über die welligen Berge abzweigte.
Verwirrt schaute Eadulf ihm nach.
Der Mann hatte ihn offensichtlich für einen von Gabrans Leuten gehalten. Er fragte sich, was für eine Ware der wohl in dieser gottverlassenen Gegend abholen sollte. Darach Carraig - der Eichenfelsen. Ein merkwürdiger Name. Er blickte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Gabran hatte gesagt, er werde jemanden schicken, der die Ware suchen sollte. Vielleicht war der dicht hinter ihm? Er sollte sich lieber rasch fortmachen, damit man ihn nicht einholte.
Eilig marschierte er auf dem Weg weiter. Er mußte wohl im Geiste zweihundert Meter abgezählt haben, denn er blieb stehen und schaute nach rechts auf den Berg. Nicht viel höher sah er Felsbrocken verstreut am Hang liegen, und dort war die Seite des Berges ausgehöhlt und bildete eine kleine Granitklippe. Er zögerte und spürte eine unüberwindliche Neugier. Er könnte doch wenigstens nachsehen, was für eine eigenartige Ware Gabran erwartete und warum sie in einer einsamen Höhle in einer noch einsameren Gegend des Landes hinterlegt wurde. Er schaute sich um. In der öden, sich verfinsternden Landschaft war niemand zu sehen.
Eadulf kletterte empor zu den Felsen, und hinter dem größten Granitbrocken entdeckte er ein klippenähnliches Stück schwarzen Felsen, das so unnatürlich aussah, als sei es von Menschenhand geformt worden.