»Bischof Forbassach ist nicht geflohen«, lachte die Äbtissin höhnisch. »Er reitet nach Fearna und holt den König und seine Krieger, um deinem Verrat ein Ende zu bereiten, Coba, und Schluß zu machen mit den falschen Anschuldigungen dieser Freundin des angelsächsischen Mörders!«
»Ich friere und habe Hunger. Mir geht es schlecht. Können wir nicht eine Weile rasten?«
So beklagte sich Conna, das jüngere Mädchen.
Eadulf hielt an und schaute sich nach der Kleinen um, die in der Dunkelheit, die sich rasch über den Berg senkte, hinter ihm und Muirecht herhinkte.
»Hier ist es zu offen und ohne Schutz, Conna«, antwortete er. »Wir müssen noch vor Einbruch der Nacht oder bald danach das Nebenkloster erreichen. Wenn wir hierbleiben, erfrieren wir.«
»Ich kann nicht weiter. Meine Beine versagen.«
Eadulf biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß sie jetzt auf dem Südhang des Gelben Berges waren und der Freistätte, von der Dalbach gesprochen hatte, ziemlich nahe. Wenn sie haltmachten, würden sie nicht wieder in Gang kommen, und hier draußen auf der windigen, ungeschützten Seite des Berges konnten sie leicht erfrieren.
»Wir gehen noch ein Stück weiter. Es kann nicht mehr weit sein. Ich glaube, ich sah ein Waldgebiet weiter unten am Hang, als vor einer Weile noch die Sonne schien. In die Richtung gehen wir. Wenn wir das Nebenkloster nicht finden, suchen wir uns eine geschützte Stelle im Wald. Vielleicht können wir sogar ein Feuer anmachen.«
»Ich kann nicht weiter!« jammerte Conna.
»Laß sie hier«, knurrte Muirecht. »Ich friere auch und habe auch Hunger, aber ich will heute nacht nicht sterben.«
Eadulf wollte sie wegen ihrer Hartherzigkeit schelten, schonte aber lieber seinen Atem. Er wandte sich um und ging zurück zu Conna, die sich auf einen Felsen gesetzt hatte.
»Wenn du nicht laufen kannst«, sagte er fest, »muß ich dich eben tragen.«
Das Mädchen blickte ihn unsicher an. Dann senkte es den Kopf und stand mühsam auf.
»Ich versuch noch ein bißchen weiterzugehen«, murrte es.
Es dauerte lange, bis das Waldstück an der kräftigen Schulter des Berges auftauchte, nicht mehr als ein dunkler Schatten. Es war nicht weit entfernt, doch Eadulf konnte nichts erkennen außer seinem Umriß, der mit dem Berghang zu verschmelzen schien.
»Kommt!« sagte Eadulf. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«
Sie trotteten weiter. Conna wimmerte leise vor sich hin, das ältere Mädchen war stumm und zornig.
Als sie den Wald erreichten, wirkte er wenig einladend in seiner dämmerigen Schwärze. Eadulf hatte Mühe, den Pfad zu verfolgen. Doch daß es einen begangenen Weg gab, war schon ein gutes Zeichen, er mußte zu dem Nebenkloster führen. Die Nacht kam rasch, und kein Mond leuchtete ihnen, denn der Himmel war stark bewölkt.
Nach einer Weile merkte Eadulf, daß die Bäume lichter wurden: Sie kamen wieder auf offenes Land hinaus. Der Pfad gabelte sich; zum Glück hatte er den Blick auf dem Boden, um die richtige Richtung zu finden, sonst hätte er die Abzweigung verpaßt.
Muirecht rief plötzlich: »Seht mal! Da unten ist ein Licht. Schau mal, Angelsachse, dort unten!«
Eadulf hob den Kopf. Das Mädchen hatte recht. Weiter unten an dem dunklen Abhang sah er ein Licht flackern. War es ein Feuer oder eine Laterne?
»Über uns ist auch ein Licht«, maulte Conna.
Überrascht wandte sich Eadulf um und spähte in die andere Richtung. Über ihnen erkannte er den schwachen Schein einer pendelnden Laterne. Sie war näher als das Licht unten. Er faßte einen Entschluß.
»Wir gehen nach oben auf das Licht zu.«
»Es wäre aber leichter, nach unten zu gehen«, wandte Muirecht ein.
»Doch der Rückweg wäre länger, wenn wir uns irren«, erklärte Eadulf logisch. »Wir gehen hinauf.«
Er lief voran, den Weg hinauf zu dem flackernden Licht. Es war weiter, als er dachte, aber schließlich kamen sie zu einer ebenen Stelle, und mehrere Gebäude, von Mauern umgeben, tauchten aus der Dunkelheit auf. Eine Laterne hing über dem Tor, und ein eisernes Kruzifix am Tor zeigte an, welchem Zweck die Gebäude dienten.
Eadulf seufzte erleichtert. Endlich hatten sie das Nebenkloster gefunden, das Dalbach empfohlen hatte. Er zog an dem Glockenstrang vor dem Tor.
Ein junger Mönch mit frischem Gesicht öffnete ihnen. Erstaunt blickte er auf das seltsame Trio, das da draußen im Lichtkreis der Laterne stand.
»Kann ich Bruder Martan sprechen?« redete Eadulf ihn an. »Dalbach hat mich hergeschickt, damit ich hier Schutz suche. Ich brauche Nahrung, Wärme und Unterkunft für mich und diese beiden Kleinen.«
Der junge Mönch trat zurück und winkte sie herein.
»Kommt rein, kommt alle rein.« Sein Willkommensgruß klang herzlich. »Ich führe dich zu Bruder Martan, und während du mit ihm sprichst, sorge ich für deine Töchter.«
Eadulf gab sich keine Mühe, den wohlmeinenden jungen Mann zu berichtigen.
Bruder Martan war untersetzt und hatte ein pausbäckiges Gesicht. Er stand schon im vorgerückten Alter und lächelte beständig.
»Deus tecum. Du bist willkommen, Fremder. Ich höre, du bist mit dem Segen Dalbachs gekommen.«
»Er sagte mir, in deinem Hause könnte ich für eine Nacht Schutz vor den Elementen finden.«
»Da sagte Dalbach die Wahrheit. Kommst du von weither? Deine Sprache ist die eines Ausländers.«
Der Alte hielt inne, denn Eadulf hatte inzwischen automatisch den Hut abgenommen.
»Du trägst die Tonsur des heiligen Petrus. Gehörst du zum Glauben?«
»Ich bin ein angelsächsischer Bruder«, gestand Eadulf.
»Und du bist mit deinen Kindern unterwegs?«
Eadulf schüttelte den Kopf, und ohne auf seinen eigenen Hintergrund einzugehen, erläuterte er, wie er die Mädchen gefunden hatte.
»Ach ja, solche Tragödien sind nicht ungewöhnlich«, seufzte Bruder Martan traurig, als Eadulf geendet hatte. »Ich habe schon von solch schlimmem Handel mit Menschenfleisch gehört. Und du sagst, der Name Ga-bran wurde bei diesem bösen Unternehmen genannt? Der Mann ist bei unseren Brüdern in Fearna bekannt. Er treibt Handel den Fluß entlang.«
»Ich mache mich morgen in aller Frühe auf den Weg nach Fearna.«
»Und die beiden Mädchen?«
»Könnte ich sie bei dir in sicherer Verwahrung lassen?«
Bruder Martan stimmte zu. »Sie können hier so lange bleiben wie nötig. Vielleicht können sie ein neues Leben in einer familiären Klostergemeinschaft beginnen, nachdem ihre eigenen Familien sie ausgestoßen haben. Der Glaube braucht immer Novizinnen.«
»Das müssen sie selbst entscheiden. Im Augenblick haben sie schlimme Erfahrungen gemacht. Verraten werden ist eine Sache, aber von den eigenen Eltern verraten werden ...« Er erschauerte leicht.
»Komm, Bruder.« Bruder Martan erhob sich. »Ich habe dich lange genug vom Essen und vom Glühwein abgehalten. Danach mußt du dich ausruhen. Du siehst völlig erschöpft aus.«
»Das bin ich auch«, gab Eadulf zu. »Ich hätte beinahe den falschen Pfad genommen, als wir aus dem Wald herauskamen. Hätte ich mich anders entschieden und wären wir noch länger am Berg herumgewandert, weiß ich nicht, ob ich noch lange hätte wach bleiben können.«
Bruder Martan sah ihn erstaunt an. »Hast du nicht unsere Laterne gesehen, die immer vor dem Tor unseres Klosters brennt?«
»O ja«, erwiderte Eadulf. »Aber ich dachte erst, das andere Licht wäre euer Zeichen.«
»Das andere Licht?« fragte Bruder Martan und lächelte dann, als er begriff. »Ach so! Weiter unten am Berg, ein paar Kilometer von hier, steht eine Jagdhütte des Königs. Wenn er oder seine Jäger dort übernachten, sieht man oft Feuer und Lichter. Sicher ist jetzt Fianamail oder jemand aus seiner Familie dort untergekommen.«
Eadulf stöhne beinahe laut auf vor Erleichterung. Hätte er sich falsch entschieden, wäre dieser Tag anders für ihn ausgegangen. In mehr als einer Hinsicht dankbar, folgte er dem freundlichen Vorsteher in den Speisesaal des Klosters.