In der Halle der Burg von Cam Eolaing hatte Fidelma zwanglos wieder die Leitung übernommen.
»Da Bischof Forbassach von hier geflohen ist«, erklärte sie ihren Zuhörern mit sarkastischem Unterton, »könnte man das - so wie er und andere Menschen ähnliche Handlungen anderer Leute ausgelegt haben -als ein Zeichen der Schuld werten.« Sie schaute Äbtissin Fainder herausfordernd an, die hochrot wurde, aber schwieg. »Doch wir haben mit ihm oder ohne ihn noch viel zu erledigen.«
»Ich glaube nicht, daß du Zeit hast, irgend etwas zu erledigen, Schwester Fidelma. Der Bischof wird bald mit den Kriegern des Königs zurückkehren«, provozierte sie Mel.
Coba ging nicht auf die Drohung ein. »Warum habt ihr, du und Bischof Forbassach, versucht, Fial umzubringen?« fragte er barsch, ohne auf Fidelmas Eröffnung zu warten.
»Wir haben nichts dergleichen getan!« antwortete Mel kühl.
»Fial selbst beschuldigt euch.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch, das stimmt!« beharrte Fial, die sich jetzt ein wenig beruhigt hatte, und schaute in die Runde. »Ihr alle wollt mich umbringen.«
Fidelma sah Coba an, bevor sie sich einschaltete, denn sie war ja eigentlich nur Gast in der Halle. Der bo-aire nickte ihr zu.
»Sagen wir es mit anderen Worten, Mel. Warum habt ihr, du und Bischof Forbassach, das Mädchen verfolgt?«
»Es war bekannt, daß Schwester Fial aus der Abtei verschwunden war. Wir wollten weiter nichts als sie zurückbringen.«
»Aber woher wußtet ihr, wo sie war?« forschte Fidelma.
»Ich wußte nicht, wo sie war. Ich glaube, Bischof Forbassach wußte es auch nicht, bis wir zufällig auf sie stießen.«
»Du sagst, ihr seid zufällig auf sie gestoßen? Ich muß wohl etwas überhört haben. Wieso kamt ihr auf der Suche nach Schwester Fial hierher?«
»Warum nennst du mich denn dauernd Schwester?« rief Fial gekränkt dazwischen. Sie begann wieder zu schluchzen.
Fidelma ging zu ihr und streichelte ihr den Arm.
»Hab noch ein bißchen Geduld, liebes Kind. Wir werden die Wahrheit bald heraushaben.« Sie sah Mel an. »Erzähl deine Geschichte weiter, Mel. Wie kamst du hierher?«
»Daran mußt du dich erinnern können«, sagte Mel. »Du warst doch dabei. Ich kam herunter in den Hauptraum des Gasthauses meiner Schwester. Du warst da mit Coba, Bischof Forbassach und Abt Noe. Du hast Gabran beschuldigt, er habe dich angegriffen. Bischof Forbassach erklärte dir, er werde das untersuchen, und befahl mir, ihn zu begleiten.«
»Hast du dich deswegen heute früh in Cam Eolaing nach Gabran erkundigt?« unterbrach ihn Fidelma.
Mel nickte bejahend.
»Bischof Forbassach und ich gingen zuerst zur Abtei. Nachdem er mit Äbtissin Fainder gesprochen hatte, ritten wir hinaus auf der Suche nach Gabran, um zu sehen, ob an deiner Beschuldigung etwas dran wäre. Der Bischof wollte nicht glauben, daß du die Geschichte erfunden hattest.«
Fidelma sah Äbtissin Fainder an. »Hast du Forbas-sach gesagt, wo Fial sich aufhielt?«
»Ich wußte nicht, wo sie war«, verwahrte sie sich dagegen.
»Aber du hast dich heute früh mit Bischof Forbas-sach getroffen?«
»Er kam sehr früh, nachdem er im Gasthaus mit dir gesprochen hatte. Er berichtete mir von deiner Beschuldigung Gabrans, aber er sagte mir nicht, daß er ihn suchen wolle. Deshalb machte ich mich selbst auf die Suche nach ihm.«
Fidelma wandte sich wieder Mel zu. »Und du sagst, ihr beide seid sofort auf die Suche nach Gabran gegangen? Willst du behaupten, ihr wärt gerade erst angekommen, als wir euch hinter Fial herjagen sahen?«
»Da kamen wir bei Gabrans Schiff an, das stimmt.«
Fidelma schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wenn ihr nach deiner Aussage die Abtei so früh verlassen habt, und eure frühe Ankunft in Cam Eolaing mit der Erkundigung nach Gabran scheint das zu bestätigen, wie kommt es dann, daß ihr Gabrans Schiff erst erreicht habt, als wir euch dort trafen? Wir hätten euch nicht so weit überholen können.«
»Wir wurden in die Irre geschickt.« Mel blieb unbeeindruckt von dem offensichtlichen Widerspruch.
»Wir ritten den falschen Arm des Flusses hinauf, und als wir merkten, daß er so schmal wurde, daß Gabrans Schiff nicht dort sein konnte, lagen wir schon ein paar Stunden hinter euch. Wir mußten das ganze Stück bis fast nach Cam Eolaing zurück, bevor wir auf den richtigen Weg kamen. Hätten wir nicht den Fehler gemacht, hätten wir Gabrans Schiff schon vor Stunden erreicht, vor euch oder der Äbtissin.«
»Forbassach und du, ihr beide stammt aus dieser Gegend. Ihr mußtet doch wissen, wie sich der Fluß teilt.«
»Fearna ist sechs oder sieben Kilometer von hier entfernt. Ja, ich stamme von dort, aber ich kenne nicht jede Ecke in diesem Königreich.«
Fidelma fand die Erklärung fragwürdig, aber immerhin möglich. Ohne nähere Kenntnis der Gegend konnte sie sie nicht nachprüfen.
»Als ihr den Umweg gemacht hattet und Gabrans Schiff suchtet, was geschah dann?«
»Da trafen wir auf Schwester Fial«, erklärte Mel. »Wir ritten den Uferweg entlang, als völlig unverhofft das Mädchen aus den Büschen vor uns heraussprang und zurückprallte. Ich glaube, sie erkannte uns, aber sie schrie auf und rannte davon. Bischof Forbassach und ich setzten ihr nach. Als nächstes trafen wir dann auf euch ...« Er zuckte die Achseln und lächelte schief. »Na, alles andere weißt du ja, Schwester.«
Fidelma dachte eine Weile über diese Aussage nach und seufzte dann tief. Sie wandte sich an Fial. Die hatte aufgehört zu schluchzen, sah aber mitgenommen und elend aus.
»Fial, zuerst will ich dir sagen, daß ich es nicht böse mit dir meine. Wenn du zu mir ehrlich bist, bin ich auch zu dir ehrlich. Verstehst du mich?«
Das Mädchen antwortete nicht, seine Augen erinnerten Fidelma an die eines verschreckten Tieres, das ein Raubtier auf sich zukommen sieht. Impulsiv ging sie hin und legte dem Mädchen den Arm um die schmalen Schultern.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin nicht deine Feindin, und ich werde dich vor deinen Feinden beschützen. Glaubst du mir?«
Es gab auch jetzt keine Reaktion. Fidelma versuchte es mit direkten Fragen.
»Wie lange warst du auf Gabrans Schiff gefangen?«
Das Mädchen schwieg weiter.
»Ich weiß, daß du dort warst. Du warst in einer kleinen Kajüte unter Deck angekettet.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Fial erschauerte und antwortete endlich.
»Ich weiß nicht, wie lange ich da war. Das letzte Mal waren es wohl zwei oder drei Tage. Es war dunkel, und ich hatte keine Ahnung, wie lange es war.«
»Du legst dem Mädchen die Worte in den Mund«, wandte Äbtissin Fainder ein.
Fidelma nahm Fials Hände mit ihren beiden Händen und hielt sie den Zuschauern hin.
»Habe ich auch diese Stellen an ihren Handgelenken verursacht, Äbtissin Fainder?« fragte sie ruhig. Die Handgelenke wiesen wunde Stellen auf, wo die Fesseln gerieben hatten. »Ich glaube, Fial könnte dir ähnliche Stellen an ihren Fußgelenken zeigen.«
Coba hatte bereits festgestellt, daß es sie gab.
»Wurdest du auf dem Schiff angekettet, Kind?« brummte er.
Als das Mädchen nicht antwortete, ermunterte es Fidelma, indem sie die Frage sanft wiederholte. Fial senkte den Kopf.
»Ja.«
»Wie konnte jemand so etwas einer Novizin antun?« empörte sich Äbtissin Fainder, die nun bereit war, das zu glauben, was sie vor Augen hatte. »Wer es auch war, er wird dafür zu bezahlen haben.«
Fidelma warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Gabran hat bereits dafür bezahlt, Äbtissin, wie du dich erinnern wirst. Dieselben Wunden von Handschellen waren auch bei Gormgilla zu sehen, laut Aussage deines Arztes, Bruder Miachs.« Dann wandte sie sich wieder dem Mädchen zu. »Außerdem war Fial niemals Novizin, weder in Fearna noch in irgendeiner anderen Abtei. Ist es nicht so?«