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Während Klinke in einer reflexartigen Bewegung die Augen überschattete, war Sydow schon über ihm. Der Mercedes war nur noch wenige Meter entfernt, das Motorengeräusch so laut, dass es sämtliche Sinne lähmte.

Sekundenbruchteile später war bereits alles vorüber. Klinke landete auf der Kühlerhaube, Sydow auf dem knochenharten Asphalt. Bevor er sich aufrappelte, immer noch auf allen Vieren, sah er der davonrasenden Limousine hinterher. Zu spät. Sie war bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden.

»Noch Fragen?«, war das Erste, was Klinke zu hören bekam, als er sich langsam von seinem Schreck erholte.

Kriminalassistent Erich Kalinke schüttelte den Kopf. Er hatte genug gesehen.

Genug, um sich nicht groß darüber zu wundern, dass seine Berliner Schnauze fürs Erste den Geist aufgab.

10

Stalins Datscha in Kunzewo bei Moskau  | 11.30h OZ

»Neuigkeiten von der Front?«

Lawrenti Berija, NKWD-Chef und meistgefürchteter Mann der Sowjetunion, schob seine Tasse weg, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er war 42, mittelgroß und Kaukasier, und vor allem war er völlig skrupellos. Für seine Mitmenschen hatte er nur Verachtung übrig, mit Ausnahme des Mannes, dem er gegenübersaß. Der einzige Mensch, in dessen Gegenwart ihn eine seltene Gefühlsregung beschlich: Angst.

Und deshalb, nicht etwa aus Unwissenheit, überlegte sich der allmächtige Geheimdienstchef seine Antwort genau. »Wie heißt es doch so schön?«, wagte er einen makaberen Scherz. »Im Westen nichts Neues!«

»Mit anderen Worten?« Der Kopf hinter der Titelseite der ›Prawda‹, von dem nur das volle, nach hinten gekämmte Haar zu sehen war, rührte sich keinen Zentimeter. »Wie ist die Lage?«

Berija fingerte nervös an seinem Brillengestell herum. »Ernst, aber nicht hoffnungslos, Josef Wissarionowitsch.«

»Im Klartext?«

»Leningrad im Würgegriff, Kiew besetzt, Moskau aus dem Schneider. Fürs Erste jedenfalls.«

»Na klar, sonst säßen wir beide ja nicht hier. Und im Südosten?«

»Kaum Aussicht auf Erfolg.« Berija schloss die Augen und massierte die zerfurchte Stirn. »Sewastopol unter schwerem Beschuss, die Deutschen auf dem Vormarsch.«

»Sonst noch was?«

»Nein, Josef Wissarionowitsch.«

»Nicht gerade vielversprechend.«

»Allerdings, Josef…«

»Zur Sache, Lawrenti Pawlowitsch. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, und zwar schnell.«

Als sein knapp 54-jähriger Tischnachbar die Lektüre der Parteizeitung beendet hatte, nahm Lawrenti Berija instinktiv Haltung an. Er hasste sich dafür, obwohl er diesbezüglich nicht allein war. Vor Stalin hatten sie nämlich alle Angst, je höher, desto mehr. »Ganz recht, Josef Wissarionowitsch. Ich wüsste nur zu gern, wie.«

Wie immer, wenn er jemanden unter Druck setzen wollte, schwieg sich Stalin aus. Die gelbbraunen Augen wirkten wie leblos, die Unterlippe wie ein farbloser Strich. Berija hielt den Atem an. Der Mann, vor dem Millionen zitterten, pockennarbig, schnauzbärtig und hintertrieben wie kaum ein Zweiter, hatte es wieder einmal geschafft. Sogar er, Herr der Lubjanka, hatte Angst vor ihm. Vor allem dann, wenn er mit Stalin alleine war. Wie jetzt, in diesem Moment.

Während der rote Zar seine Pfeife anzündete, dachte Berija angestrengt nach. Die Stille auf der Terrasse des etwa sieben Hektar großen, von Wiesen, Gärten und Fichten umgebenen Anwesens hatte etwas Bedrohliches an sich, trotz oder gerade wegen der fünf Meter hohen Palisade, mit der es umgeben war. Es war die Stille vor der Entscheidung, die Ruhe vor dem Sturm.

»Und? Irgendwelche Ideen?« Stalin schnippte das Streichholz in den Aschenbecher, schlug die Beine übereinander und ließ sich in seinen Korbsessel sinken. Ganz anders Berija, dessen Blick auf dem mit Akten, Depeschen und persönlichen Papieren übersäten Gartentisch hin und her irrte.

»Wenn ich ehrlich bin, nein!«, hörte sich seine Antwort etwas kläglich an.

»Hm.« Stalin zog an seiner Pfeife, nahm die Schirmmütze ab und kratzte sich hinterm Ohr. Bevor Berija darüber nachgrübeln konnte, ob dies etwa ein schlechtes Zeichen sei, sagte er: »Scheint so, als würde sich unser Tanz auf dem Drahtseil noch eine Weile in die Länge ziehen.«

Berija schaltete sofort, ein für das Überleben in Stalins Umgebung unverzichtbares Requisit. »Wenn Sie die Geheimverhandlungen mit den Deutschen meinen, Josef Wissarion…«

»Genau die meine ich, Genosse Berija

Also doch. Er hätte es sich denken können. Berija schob seine randlose Brille hoch, massierte die Nasenflügel und rückte das Gestell anschließend auf umständliche Weise zurecht. Der erhoffte Zeitgewinn war jedoch gering. Er musste sich etwas einfallen lassen, umso mehr, als er anderer Meinung war.

»Ich bin mir nicht sicher, ob eine Wiederaufnahme der Geheimverhandlungen mit den Deutschen der richtige Weg ist, um uns aus der gegenwärtigen, zugegebenermaßen äußerst prekären Situation zu…«

»Aber ich.«

Stalin sah Berija nicht einmal an, sondern ließ einen Rauchkringel aufsteigen und den Blick über die mit Zierpflanzen, Rabatten und Blumenkübeln umgebene Veranda schweifen.

Berija schluckte. »Wenn dem tatsächlich so ist«, änderte er seinen Kurs, »gebe ich zu bedenken, dass dabei mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen werden muss.«

»Das versteht sich ja wohl von selbst. Wenn Roosevelt und Churchill etwas mitkriegen, wird das sicherlich Konsequenzen haben.«

»Und nicht zu knapp, Josef Wissarionowitsch. Zumal nach Heydrichs Tod vor drei Tagen etliche Kontakte neu geknüpft werden müssen. Damit nur ja nichts in falsche Hände gerät. Kaum auszudenken, wenn irgendetwas davon nach außen dringt. Wir wären blamiert bis auf die Knochen, von Spannungen innerhalb der Kriegsallianz nicht zu reden.«

»Sind Sie sich da so sicher, Lawrenti Pawlowitsch? Die Yankees und die Briten brauchen uns, sonst können die den Krieg doch glatt vergessen!«

Berija lächelte gequält. »Besser, es diesbezüglich nicht darauf ankommen zu lassen, Josef Wissarionowitsch, oder nicht?«

»Mag sein.« Auf einmal war Stalin nachdenklich geworden. »Bekanntermaßen ist diesem Hitler ja wohl nicht zu trauen.«

»Und selbst wenn–die Deutschen werden einen hohen Preis verlangen. Das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine–möglicherweise sogar die Krim. Ein zu hoher Preis, wie ich finde.«

Stalin rieb sich nachdenklich das Kinn. »Na gut!«, gestand er widerwillig ein. »Lassen wir die Sache lieber bleiben und hoffen, dass sich die Dinge zu unserem Vorteil entwickeln. Trotz der hohen Verluste, die wir dabei unweigerlich in Kauf nehmen müssen.«

»Vollkommen richtig, Josef Wissarionowitsch. Lassen wir die Vergangenheit lieber ruhen. Dementsprechend gering wird die Gefahr sein, dass irgendjemand etwas von unseren Geheimverhandlungen mit den Deutschen…«

Die Schritte auf dem Kiesbelag waren so eilig, dass Lawrenti Berija prompt den Faden verlor. Bleich wie der Tod dachte er zuerst an das Schlimmste, nämlich seine Verhaftung, sprang auf und wirbelte herum. Kaum hatte er in dem Ankömmling jedoch seinen Adjutanten erkannt, entspannte er sich wieder. Zu früh, wie ihm schmerzlich bewusst werden sollte: »Genosse Stalin, Lawrenti Pawlowitsch!«, stieß der völlig außer Atem geratene NKWD-Leutnant hervor und kam erst kurz vor dem Gartentisch zum Stehen. »Dringende Nachrichten aus Berlin!«

»Und die wären?«, ließ Stalin mit stoischer Gelassenheit verlauten, aber da hielt Berija die Depesche bereits in der Hand.

»Danke, Karganowitsch, Sie können gehen!«, war alles, was Berija noch herausbrachte.

 Dann musste er sich setzten.

 »Neuigkeiten?«

Berija antwortete nicht sofort, las die Nachricht zum zweiten, kurz darauf zum dritten Mal. Er war kreidebleich, so konfus, wie er es sich selbst nicht hätte vorstellen können. »Und ob!«, stammelte er und ließ den Brief auf die zitternden Knie sinken.