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»1002 Juden auf einen Schlag nach Riga zu verfrachten ist eben kein Pappenstiel.«

»1001, mein lieber Eichmann, 1001.«

»Ich denke, wenn wir unsere Anstrengungen verdoppeln …«

»Verdoppeln?« Heydrich klappte den Aktendeckel zu und trat bis auf Armlänge an Eichmann heran. »Habe ich da eben richtig gehört? Der Führer verlangt Ergebnisse, und zwar nicht erst in ein paar Jahren! Die Endlösung der Judenfrage muss weiter vorangetrieben werden. Effizient und mit rationalem Kalkül. Bar jeglicher Humanitätsduselei. Schon vergessen, worüber wir vorhin gesprochen haben?« Heydrich nahm die Akte und schlug mit dem Handrücken dagegen. »Das besetzte Europa muss judenfrei werden. Besser heute als morgen. Wir müssen und werden es von Westen nach Osten durchkämmen. Stück für Stück, Kilometer für Kilometer. Selbstverständlich ist zuerst das Reichsgebiet dran. Und da gibt es bedauerlicherweise erheblichen Nachholbedarf. Vor allem hier in Berlin. Die Zahl der zu Deportierenden geht in die Millionen. Und das genau ist der Punkt. Um eine reibungslose Durchführung der Endlösung zu gewährleisten, reicht eine Verdoppelung unserer Kräfte nicht aus. Was nützen mir die paar Tausend Juden, die seit Kriegsbeginn per Bahn von Berlin aus deportiert worden sind?«

»3957, Obergruppenführer.«

Heydrich kniff die Augenlider zusammen und fixierte seinen Untergebenen mit missbilligendem Blick. »Wissen Sie was, Eichmann?«, dämpfte er seine Fistelstimme, bis er kaum noch zu verstehen war. »Allmählich frage ich mich, ob Sie Ihrer Aufgabe überhaupt gewachsen sind.«

Eichmann schluckte. »Keine Sorge, Obergruppenführer. Ich werde mein Bestes tun.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen. Die Züge müssen pausenlos rollen, nicht nur alle paar Tage. Bedenken Sie, wie viele Juden allein hier in Berlin untergetaucht sind.«

»So an die 5.000, habe ich mir sagen lassen.«

»Umso schlimmer. Aber keine Bange. Bis zum Endsieg werden wir auch mit ihnen fertigwerden.«

»Ganz ohne Zweifel, Obergruppenführer.«

»Wie schön, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind.« Über Heydrichs Gesicht huschte ein zynisches Lächeln, und die Wolfsaugen flackerten kurz auf. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, Eichmann. Wir stehen vor einem logistischen Problem, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Sollten Sie folglich an der Durchführbarkeit der Endlösung Zweifel hegen oder sich Ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nicht gewachsen fühlen, muss ich Sie ersuchen, mir dies umgehend …«

»Na, Obergruppenführer, Nachschub für Ihren Giftschrank?«

Heydrich konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn man ihn einfach unterbrach. Selbst wenn es der Gestapochef höchstpersönlich war. Sein Glück, dass Heinrich Müller bereits leicht angetrunken war.

Einen Wimpernschlag lang schien Heydrichs Wolfsblick seinen Mann fürs Grobe zu durchbohren. »Informationen über unsere Gegner zu sammeln, ist bekanntlich unser aller Pflicht, oder nicht?«, fuhr er Müller barsch an.

Der trat denn auch prompt den Rückzug an.

»Selbstverständlich!«, knickte er sofort ein. »Es ist nur wegen der Gerüchte, die in Parteikreisen im Umlauf sind.«

»Gerüchte?«

»In der Tat.« Müller riss sich die Cognacflasche unter den Nagel und schenkte Eichmann und sich nach. »Es scheint da einige Leute zu geben, die erhebliche Manschetten vor Ihnen haben, Obergruppenführer.«

Heydrich setzte ein hintergründiges Lächeln auf. »Und aus welchem Grund?«

»Nun ja«, druckste Müller herum, »es geht eben das Gerücht, Sie, Obergruppenführer, hätten praktisch gegen jeden etwas in der Hand. Sogar gegen Reichsführer Himmler. Und beileibe nicht nur gegen ihn. Selbst gegen Göring und Goebbels und wahrscheinlich sogar auch gegen den …«

»Und selbst wenn es so wäre«, antwortete Heydrich gedehnt und fuhr mit seinen Spinnenbeinfingern an der Oberkante der Akte entlang, »wo läge dann das Problem?«

Der Gestapochef hüstelte und mied seinen Blick. Dann nahm er sich zusammen und sagte: »Das Problem, Obergruppenführer, liegt darin, was passiert, wenn Ihre Geheimunterlagen inklusive des heutigen Konferenzprotokolls in die falschen Hände geraten.«

»Ihre Fantasie in Ehren, mein lieber Müller, aber unter welchen Umständen sollte das geschehen?«

Der Angesprochene und Eichmann tauschten einen vielsagenden Blick. Da der Gestapochef keine Lust verspürte, sich weiter als nötig aus dem Fenster zu lehnen, nahm Eichmann den Ball vorsichtig auf. »Wir wollen nicht hoffen, dass dieser Fall eintritt, aber was passiert, wenn Sie, Obergruppenführer, unvorhergesehenerweise… nun, wie drücke ich mich jetzt aus…«

»Was passiert, wenn mir etwas zustößt, meinen Sie?«, fuhr Heydrich dazwischen und lächelte maliziös. »Keine Sorge, Eichmann. Für diesen Fall habe ich bereits vorgesorgt.« Dann fügte er hinzu: »Insofern es den sagenumwobenen Giftschrank überhaupt gibt.«

Der Gestapochef öffnete seinen Uniformkragen und schüttete ein weiteres Glas Rémy Martin in sich hinein. »Wobei wir alle hoffen, dass dieser Tag X niemals Wirklichkeit werden wird!«, sagte er und stand Eichmann in puncto Servilität in nichts nach.

»Hoffen?«, gab Heydrich kurz angebunden zurück. »Dessen bin ich mir absolut sicher!«

Er hatte noch vier Monate, zwei Wochen und einen Tag zu leben.

3

Großer Wannsee, Ostufer                     20.01. | 14.10h

Tod durch Erfrieren. Das Beste in ihrer Situation. Besser, als der Gestapo in die Arme zu laufen.

Weshalb sie nicht schon längst aufgegeben hatte, war ihr ein Rätsel. Genauso wie die Frage, wie lange sie noch würde durchhalten können.

Rebecca konnte nicht mehr. Die Temperatur lag weit unter null, und ihr Körper war wie erstarrt. Sie bewegte sich mechanisch. Fast wie in Trance. Nicht einmal ihr Mantel hielt sie jetzt noch warm. Ein paar Stunden noch, und sie würde erfrieren.

Ein paar Stunden. Wenn überhaupt.

Und dann war da noch die Frage, wohin.

Zurück nach Hause? Keinen Sinn. Dort wartete doch schon längst die Gestapo auf sie. Das heißt, wenn sie überhaupt bis nach Schöneberg kommen würde.

Also nichts wie weg aus Berlin. Richtung Potsdam, wo sie Verwandte hatte. Eine vage Hoffnung. Aber das Einzige, was ihr anscheinend übrig blieb.

Rebecca torkelte mehr, als dass sie ging. Für die Schönheit der Winterlandschaft hatte sie keinen Blick. Ein Gutes hatte die Sache allerdings. Mit Ausnahme von einem Schwarm Graugänse, einem Fischreiher und ein paar Schwänen war sie das einzige Lebewesen weit und breit. Das konnte ihr nur recht sein. Rebecca beschleunigte ihren Schritt, blieb aber kurz darauf wie elektrisiert stehen.

Vor ihr lag der Wannsee, fast wie gemalt. Die Oberfläche glatt, in Ufernähe hie und da vereist. Darüber nichts als grauer Himmel. Von Blau keine Spur.

Wo genau sie sich befand, wusste Rebecca nicht. Sie wusste nur eines: Das Geräusch, das von irgendwoher aus der Nähe an ihr Ohr drang, passte nicht in die unwirtliche Szenerie.

Zuerst dachte sie, es seien die Nerven. Aber dann, in einem Moment blitzartiger Erkenntnis, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Musik, weniger als 100 Schritt entfernt. Töne einer Violine, die ihr auf eigentümliche Weise vertraut vorkamen und die grimmige Kälte vergessen machten. Sanft und voller Melancholie.

›Ele chambda libi‹. Vaters Lieblingslied.

Trotz der Gefahr, in der sie schwebte, wirkte die Musik wie ein Magnet auf sie. Es gab nichts, was Rebecca dagegen tun konnte. Und so dachte sie nicht weiter nach, als sie in Richtung Seeufer abbog und den Tönen der Klezmer-Musik folgte.

Den Mann, den sie dort antraf, hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er war mittelgroß, über 50 und bis auf einen opulent sprießenden Haarkranz völlig kahl. Sein hervorstechendstes Merkmal war ein roter Schal, den er über dem zerschlissenen Mantel trug. Als Rebecca durch den knöcheltiefen Schnee auf ihn zustapfte, lächelte er ihr kurz zu, ließ sich jedoch nicht stören.