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Die Brandwache auf dem Pariser Platz, zwei Feuerwehrleute vom Typ Laurel und Hardy, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Vor nicht einmal zehn Minuten war der Bezirk Mitte keinen Schuss Pulver mehr wert gewesen.

Und jetzt das.

»Kapierst du das?«, machte die Hardy-Kopie aus seiner Ratlosigkeit keinen Hehl.

»Nee.« Sein Kollege, ein Lethargiker von hohen Gnaden, wischte sich den Schweiß von der Stirn und stierte dumpf vor sich hin. »Du?«

»Denkst du vielleicht, ich kann hellsehen? Woher soll denn ausgerechnet ich wissen, weshalb die Tommies ihre Eier nicht abgeworfen haben?«

»Egal. Uns kanns jedenfalls wurscht sein.«

»Ein Gemüt wie ein Fleischwolf. So was wie dich gibts wirklich kein zweites Mal.«

»Übung macht den Meister. Wer weiß, vielleicht haben sie im letzten Moment Fracksausen gekriegt!«

Der Blick, mit dem ihn sein Kollege bedachte, sprach Bände, und der Lethargiker wandte sich beleidigt ab.

»Quatsch!«, verkündete Oliver Hardy der Zweite. »Ich sag dir eins. Da steckt was ganz anderes da…«

Vom Geräusch einer herannahenden Mosquito NF Mk. XIX irritiert, verstummte der Brandwächter auf einen Schlag. Er war völlig perplex, außerstande zu reagieren. Erst als die Maschine, welche die Quadriga auf dem Brandenburger Tor nur um Haaresbreite verfehlte, seinen Blicken entschwunden war, fand er die Sprache wieder. »Hast du die Registriernummer notiert?«, fragte er seinen Kollegen, ohne Gespür dafür, wie absurd seine Frage war. »Der Trottel verletzt die Vorschriften!«

| 23.59h

Drei Dinge waren es, die Tom Sydow wieder zum Leben erweckten. Zum einen die Regenschauer, die über die Ost-West-Achse peitschten und ihn in Sekundenschnelle durchnässt hatten. Zum anderen, weit ungewöhnlicher, die Geräusche eines Flugzeuges, dessen Bugräder in unmittelbarer Nähe über den Asphalt radierten. Doch weder die Regentropfen, die seine glühend heiße Stirn kühlten, noch die Propellergeräusche der zweimotorigen Mosquito wären imstande gewesen, ihn dem Abgrund seiner Ohnmacht zu entreißen.

Hätte es da nicht die Hand gegeben, die ihm behutsam über die Haare strich.

Seltsam, aber wie er so dalag, den Kopf auf etwas Weiches gebettet, verspürte er den plötzlichen Wunsch, dies möge immer so weitergehen. Doch dann, gerade eben noch dem Tode nahe, schlug Tom Sydow die Augen auf. Bis er begriff, dass das, was er im Stillen gehofft hatte, Wirklichkeit geworden war, verging einige Zeit. Sekunden, in denen sich das Inferno ringsum in Nichts auflöste. Gerade so, als sei er aus einem Albtraum erwacht.

Das konnte jedoch nicht sein. Die Frau, in deren Augen sich sein Blick versenkte, hatte mit einem Albtraum nicht das Geringste zu tun. Eher mit seinem Gegenteil.

Erleichtert, ihn wieder unter den Lebenden zu wissen, leuchtete Rebeccas Gesicht vor Freude auf. Das Lächeln, das über ihre bleichen Züge glitt, sagte mehr als Worte. Sydow hätte viel dafür gegeben, wenn dieser Augenblick von Dauer gewesen wäre. Doch da drang auf einmal wieder dieser Motorenlärm an sein Ohr. Und plötzlich, obwohl er sich dagegen sträubte, kehrte seine Erinnerung wieder zurück. Wäre Rebecca nicht gewesen, hätte er ihr vermutlich nicht standhalten können.

So aber erwiderte er ihr Lächeln, und als er sich aufrappelte, bemerkte er, dass sie eine Tasche bei sich trug. Alles, was er auf seinen fragenden Blick hin als Antwort erhielt, war ein resigniertes Nicken. Sydow verstand. Es war also alles gut gegangen. Mehr brauchte, mehr wollte er im Moment auch nicht erfahren. Was er wissen wollte, und das mit jeder Faser seines Wesens, wusste er bereits. Rebecca hatte es tatsächlich geschafft. Und das, nicht die Tatsache, dass Claasen, Klinke und er die Gestapo nach allen Regeln der Kunst ausmanövriert hatten, war für ihn das Wichtigste. Sollte Heydrich, Himmler und die ganze verkommene Sippschaft doch seinetwegen der Teufel holen. Für seinen Teil hatte er von dem Fall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, genug.

Das Geräusch sich nähernder Motoren, offensichtlich die eines Kampfflugzeuges, brachte Sydow wieder in die Wirklichkeit zurück. Wäre Rebecca nicht gewesen, mit deren Hilfe er sich aufrecht hielt, hätte er den Anblick der zweimotorigen Mosquito für eine Sinnestäuschung gehalten. Dass dem nicht so war, begriff er spätestens in dem Moment, als die Maschine mit dem Hoheitszeichen der RAF die Siegessäule zu umrunden und erneut in Richtung Brandenburger Tor einzuschwenken begann.

Was dann folgte, konnte man schlecht beschreiben, und schon gar nicht die Gefühle, die Sydow überkamen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Im Guten wie im Bösen. Zu ausgelaugt, um auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, starrte er den mit Tarnfarben bemalten Nachtjäger britischer Bauart wie ein Phantomgebilde an.

Mit seinem Piloten, der soeben aus der Kanzel stieg, erging es ihm ebenso. Obwohl er wusste, wen er hier antreffen würde, konnte es Sydow immer noch nicht richtig glauben und starrte seinen ehemaligen Internatsgefährten ungläubig an.

McLeod, um einiges irritierter als er, erging es nicht anders. Im Begriff, auf Sydow und Rebecca zuzueilen, blieb er wie versteinert stehen. Der Regen ergoss sich vom Himmel, und ein Gemisch aus Flugbenzin, Phosphor und verkohltem Holz lag in der Luft. McLeod wusste nicht, worüber er sich mehr freuen sollte: über die geglückte Landung, das Abklingen der Brandherde oder das unerwartete Treffen mit einem alten Freund.

Ein Zusammentreffen, mit dem er nicht gerechnet hatte. Nicht einmal in seinen kühnsten Fantasien.

Wären die Sirenen nicht gewesen, die fürs Erste Entwarnung gaben, hätte keiner der beiden Männer ein Wort gesagt. So aber drängte die Zeit. Zumal, wie eine Feuerwehrsirene ankündigte, sie nicht mehr lange unter sich sein würden. Und so rettete Wing Commander Jason McLeod in unnachahmlicher Weise die Situation: »Gestatten–McLeod!«, stellte er sich Rebecca vor. Und fügte, an Sydow gewandt, hinzu: »Thomas Randolph von Sydow, nehme ich an?«

Sekunden des Zögerns, dann ein Lächeln, und schon lagen sich die Freunde in den Armen.

»Max ist tot, Jason.« Ohne es zu wollen, wanderte Sydows Blick zu der Stelle, an der ein verkrümmter, im Zwielicht des soeben erlöschenden Brandsatzes kaum auszumachender Leichnam lag. »Wir können nichts mehr für ihn tun.«

McLeod schluckte, wandte sich jedoch gleich wieder ab.

»Mission completed, Jason. Er hat sein Bestes getan. Die Dame an meiner Seite nicht zu vergessen. Ohne sie wären wir glatt aufgeschmissen gewesen.«

Obwohl sein Deutsch nicht das Beste war, flog ein Lächeln über McLeods Gesicht und er schüttelte Rebecca die Hand.

»Dann packen Sie mal mit an, Frollein!«, radebrechte er, als die Feuerwehrsirenen bereits ganz nahe waren. »Damit wir rechtzeitig die… wie sagt man bei Ihnen in Deutschland doch gleich?«

»Die Fliege machen!«, presste Rebecca heraus, Tränen der Erleichterung und zugleich tiefster Verzweiflung im Gesicht. Die Tasche über ihrer Schulter wog so schwer wie Blei, und sie hatte Mühe, die Fassung zu bewahren.

»Und wohin bringst du uns, Jason?«, fragte Sydow, während ihn McLeod und Rebecca zum Flugzeug eskortierten.

»Nach Hause, Tom!«, antwortete der Wing Commander knapp. »Nach Hause!«

36

London-Westminster, 10 Downing Street | 06.52 h OZ

»Ein Sitzungsprotokoll–mehr nicht? Und deswegen schmeißen Sie mich aus den Federn raus?« Winston Churchill, Spätaufsteher aus Passion, funkelte Sir Stewart Menzies, Chef des MI6, wütend an. McLeod, die Strapazen der letzten Stunden im übernächtigten Gesicht, nahm instinktiv Haltung an. Auf die Aufforderung, sich zu setzen, hatte er vergeblich gewartet. Kein Wunder bei der schlechten Laune, die der Premierminister hatte.

»Etwas Geduld, Sir, wenn ich bitten darf.« Über das 15-seitige Protokoll gebeugt, das ihm McLeod vor zehn Minuten in die Hand gedrückt hatte, saß Menzies am Kabinettstisch und nahm von Churchills Griesgrämigkeit nur am Rande Notiz. Obwohl sein Deutsch nicht das allerbeste war, hatte er sich von seiner Arbeit nicht abbringen lassen. Sein Instinkt, auf den er sich stets hatte verlassen können, sagte ihm, dass dieses Dokument mehr wert war als sämtliche Geheimdossiers des Dritten Reiches zusammen.