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»Wie wärs denn mit einem Übersetzer?«, polterte Churchill drauflos.

»Schon unterwegs, Sir!«, ließ sich Menzies nicht beirren. Je länger er über dem Dokument mit dem Vermerk ›Geheime Reichssache‹ brütete, umso mehr überkam ihn die Überzeugung, dass sich die Mühe trotz allem gelohnt zu haben schien. Claasen, dessen Tod ihn alles andere als kalt gelassen hatte, war nicht umsonst gestorben. Das stand für ihn jetzt schon fest.

»Nichts über Hitler, Goebbels und die ganze verfluchte Brut?«, wandte sich Churchill dem Wing Commander zu, der am liebsten im Boden versunken wäre.

»Nein, Sir.«

»Diese Rebecca Kahn oder wie immer sie auch heißen mag–sind Sie der Meinung, sie spielt ein doppeltes Spiel?«

»Auf keinen Fall, Sir.«

»Na ja, könnte doch sein.« Churchill zuckte die Achseln und nippte an seinem Tee. Mit dem Erfolg, dass seine Laune endgültig in den Keller sank. »Wer sagt uns, dass sie die übrigen Dokumente aus dem Schließfach nicht beiseite geschafft hat? Um gegebenenfalls Kapital daraus zu schlagen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen, Sir.«

»Was macht Sie so sicher, McLeod?«

»Pure Menschenkenntnis, Sir.«

»Menschenkenntnis, soso.« Im Begriff, es mit einem Glas Milch zu probieren, das sich auch auf seinem Frühstückstablett befand, schnitt Churchill eine Grimasse und schob es angewidert weg.

»Und wo, wenn die Frage erlaubt ist, hält sich besagte Dame momentan auf?«

»Im Krankenhaus. Bei ihrem…«

»Wie heißt Ihr Eton-Kumpan gleich noch mal?«

»Sydow, Sir. Thomas Randolph von Sydow.«

»Vertrauenswürdig?«

»Voll und ganz, Sir.«

»Wie dem auch sei! Wir werden nicht umhinkommen, ein Auge auf ihn zu haben.«

McLeod runzelte die Stirn, zog es jedoch vor, die Stimmung nicht weiter anzuheizen.

»Besser, Sie kümmern sich jetzt um ihn, junger Mann.«

»Selbstverständlich, Sir!«, antwortete McLeod, salutierte und begab sich zur Tür.

»Ach, noch was, mein Junge!«, rief ihm Churchill hinterher, als die Hand des Walisers bereits auf der Türklinke lag.

»Sir?«

»Danke.«

McLeods Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Dann öffnete er die Tür und verschwand.

»Und? Schlauer geworden?«, war Churchill schon wesentlich milder gestimmt, als er sich wieder Menzies zuwandte. Doch der schien seine Frage überhaupt nicht gehört zu haben. Drauf und dran, wieder loszupoltern, bemerkte Churchill jedoch im letzten Moment, dass sein Geheimdienstchef auf einmal leichenblass geworden war. Churchill stutzte. So lange er denken konnte, hatte er Menzies in keiner vergleichbaren, ans Depressive grenzenden Stimmung erlebt. »Irgendwelche neuen Erkenntnisse?«, milderte er den Tonfall seiner Frage denn auch deutlich ab.

»Kann man wohl sagen, Sir.«

»Welche?«

Das Gesicht in die Handballen gestützt, schwieg sich Menzies eine Zeit lang aus. Dann hob er den Kopf, legte die Handflächen aneinander und sagte: »Um es kurz zu machen, Sir! Wenn ich dieses Dokument richtig deute, wurde Heydrich damit beauftragt, die Vernichtung sämtlicher im Machtbereich der Nazis wohnhafter Juden in die Wege zu leiten.«

»Wie bitte?«

»Bei allem gebotenen Respekt! Sie haben richtig gehört, Sir. Sieht so aus, als gäbe es auch schon ein Wort dafür: Endlösung!«

Churchill erhob sich, fuhr mit Daumen und Zeigefinger über das unrasierte Kinn und watschelte mit bedächtigen Schritten auf Menzies zu. »Irgendwelche Erkenntnisse, die zu der Annahme berechtigen, dass der Wortlaut dieses Protokolls der Wahrheit entspricht?«

Menzies schürzte die Lippen, nickte und ließ sein Gesicht wieder zwischen den Handflächen versinken. »Wenn, dann nichts Genaues, Sir.«

»Was soll das heißen?«

»Dass, zumindest was das Reichsgebiet betrifft, derzeit umfangreiche Deportationen im Gange sind.«

»Und wohin?«

»Ins besetzte Polen. Unter anderem nach Auschwitz, Belzec und Treblinka.«

»Etwas genauer, wenns beliebt.«

Binnen Minuten um Jahre gealtert, starrte Menzies Churchill durchdringend an. »Lager, Sir, riesige Lager. Die SS ist dabei, halb Polen mit einem Netz von Lagern zu überziehen. Muss ich etwa noch deutlicher werden?«

»Nicht nötig.« Beide Hände auf das Kaminsims gestützt, starrte Churchill in die hell auflodernde Glut. Kein Laut durchbrach die Stille, bis auf das Ticken der Standuhr, die sich links neben dem Kamin befand.

Plötzlich, nach minutenlangem Schweigen, stieß sich Churchill ab, drehte sich um und nahm das Dokument mit der Aufschrift ›Geheime Reichssache‹ in die Hand. »Wissen Sie was, Menzies?«, fragte er mit belegter Stimme.

Menzies drehte sich um und sah Churchill fragend an. »Sir?«

»Bisweilen ist es von Vorteil, nicht allzu genau über derartige Dinge im Bilde zu sein.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, Sir.«

Ohne auf Menzies zu achten, der jede seiner Bewegungen aufmerksam registrierte, wandte sich Churchill ab, bückte sich und hielt die Akte in die Glut.

Kaum war dies geschehen, fing sie Feuer.

37

Saint Thomas Hospital                                   | 11.58h

»Bedaure, Schwester, ich habe einen dringenden Termin!«, fertigte Sydow die wandelnde Kriegserklärung, die sich Schwester nannte, kurzerhand ab.

»Na schön, dann aber auf eigene Gefahr.«

»Wissen Sie was, Schwester?«, konterte Sydow mit Blick auf die Stelle, wo sich seine frisch bandagierte Verletzung befand. »Was Gefahr angeht, kann mich wirklich nichts mehr erschüttern.« Dann setzte er sein strahlendstes Lächeln auf, schnappte sich sein Jackett und verließ die Ambulanz.

»Was? Schon fertig?«, empfing ihn Rebecca draußen auf dem Flur.

»Klar!«, erwiderte Sydow, immer noch bleich im Gesicht. »Einen wie mich haut so schnell nichts um.«

»Natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen!«, entgegnete Rebecca mit gutmütigem Spott und hakte sich bei ihm unter.

»Aua! Ich fürchte, da tuts noch ein wenig…«

»Weh?«

»Das nun nicht gerade, aber würde es dir etwas ausmachen, wenn du…«

»So richtig?«, antwortete Rebecca, strich sich die Haare aus dem Gesicht und ergriff seine Hand.

Sydow strahlte über das ganze Gesicht. Mit Ausnahme der Freunde, um die er trauerte, war auf einmal alles vergessen, was ihn an den gestrigen Tag erinnerte.

»Und jetzt?«, fragte Rebecca, die ebenfalls kaum wiederzuerkennen war.

»Jetzt werden wir–für den Fall, dass er genauso pünktlich wie gestern ist–, zusammen mit McLeod eine kleine Spritztour durch London machen. Und uns anschließend zum Tee bei meiner Mutter einladen. Was hältst du von der Idee?«

»Klingt nicht schlecht!«, antwortete Rebecca und fuhr durch ihr seidenweiches Haar.

»Du machst mich verlegen, weißt du das?«

»Und das bei dir–einfach nicht zu glauben!«, lachte Rebecca, verstärkte ihren Griff und zog ihn mit sich fort.

Den Stich, den sie dabei im Herzen empfand, ignorierte sie, so gut es ging. Die Erinnerung an das Vergangene würde stets präsent in ihr sein. Wohin sie auch gehen, was immer sie tun würde.

Und dennoch: Sie würde leben.

Endlich wieder leben.

»Und am 9. Juni befahl Hitler [...] das gesamte Dorf Lidice auszuradieren. SS-Leute exekutierten alle 184 Männer des Dorfes, deportierten die 198 Frauen ins KZ Ravensbrück (aus dem nur 143 heimkehrten) und verschleppten die 105 Kinder nach Lodz (nur 17 überlebten). Lidice wurde dem Erdboden gleichgemacht.«