»Psst — haben Sie eben etwas gehört?« wisperte Margo. Sie drückten ihre Zigaretten aus und horchten angestrengt. Dann kroch Hunter vorsichtig auf dem Weg, den er sich vorher überlegt hatte, bis an den Rand des Felsabsturzes vor und suchte von dort aus ihre Umgebung ab.
Das Lager war ruhig und friedlich. Nirgendwo waren ungewohnte Geräusche zu hören oder Bewegungen zu erkennen. Aber der leise Wind ließ Margo und Hunter zusammenzucken, als sie an die Leiche dachten, die ganz in ihrer Nähe in der Höhle lag. Wenige Minuten später nahmen sie wieder ihre Plätze ein und zündeten sich neue Zigaretten an.
»Wissen Sie, worüber ich vorher nachgedacht habe, Margo?« begann Hunter. Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Ich habe mir überlegt, wie sehr Sie sich seit heute verändert haben. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß Sie erst jetzt völlig erwachsen sind.«
Margo nickte zustimmend. »Alles ist jetzt wirklicher als zuvor«, antwortete sie langsam. »Ich glaube fast, daß ich bisher gar nicht richtig gelebt habe. Es ist wunderbar.«
»Die Erfahrung hat Sie schön gemacht«, sagte er und nahm ihre Hand in seine. »Noch schöner. Eine wunderschöne Walküre namens Margo.«
»Wer Sie jetzt hören könnte, müßte annehmen, daß Sie Absichten auf mich haben, Ross«, stellte Margo ernsthaft fest.
»Das habe ich auch«, antwortete er und hielt ihre Hand noch fester.
»Sie haben aber eine Frau und zwei Söhne in Oregon«, flüsterte Margo. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihm ihre Hand entziehen.
»Das spielt jetzt keine Rolle, obwohl ich mir ihretwegen ständig Sorgen mache«, sagte Hunter. »Wir leben nur noch von Tag zu Tag. Jede Minute kann die letzte sein. Margo, ich ...«
»Wir kennen uns erst seit gestern, Ross. Sie sind viel älter als ich und ...«
»Bestenfalls zehn Jahre«, protestierte er heftig. »Margo, die ganzen verknöcherten Moralbegriffe gelten hier nicht mehr. Rudi hat ganz richtig festgestellt, daß wir in einer Para-Realität leben, in der es keine ...«
In diesem Augenblick riß hoch über ihnen die dichte Wolkendecke auf, so daß der Wanderer mit seinem Mandala-Gesicht zum Vorschein kam. Die Trümmer des Mondes bildeten einen glitzernden Halbkreis um den neuen Planeten. Margo zog ihre Hand zurück und zeigte nach oben.
»Mein Verlobter ist dort«, sagte sie. »Er war auf diesem Trümmerhaufen stationiert. Aber vielleicht ist er mit dem Leben davongekommen; vielleicht ist er jetzt sogar auf dem Wanderer.«
»Ich weiß«, antwortete Hunter und sah ihr ins Gesicht das im Licht des Wanderers deutlicher als zuvor sichtbar war. »Ich habe in den Zeitungen genügend über Ihre Romanze mit Don Merriam gelesen. Auf den Bildern sind Sie mir immer wie eine freche, naseweise Göre vorgekommen, die vom Leben erst einmal richtig durchgeschüttelt werden müßte, um richtig erwachsen zu werden.«
»Und das hätten Sie gern übernommen, wie?« Margo lächelte spöttisch und schüttelte den Kopf. »Außerdem muß ich auch an Paul denken«, fuhr sie rasch fort. »Schließlich ist er an Bord der Untertasse verschleppt worden. Er ist ganz verrückt nach mir aber irgendwie innerlich verkrampft. Vielleicht tragen seine jetzigen Erlebnisse dazu bei, daß er etwas normaler wird.«
»Die beiden sind mir völlig gleichgültig«, sagte Hunter. Er richtete sich auf den Knien auf und hielt Margo an den Schultern fest. »Ich habe keinerlei moralische Bedenken, wenn ich den Vorteil ausnütze, den ich im Augenblick noch gegenüber jüngeren Männern habe, die bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken, obwohl sie verrückt nach Ihnen sind. Außerdem kenne ich Sie besser, als diese jungen Männer Sie je kennen werden; ich habe die Veränderung in Ihnen beobachtet, und ich bin verrückter nach Ihnen als die anderen. Im Augenblick zählt nichts anderes als Sie und ich. Margo, wir ...«
»Nein!« sagte sie plötzlich und stand ruckartig auf. »Ich freue mich, daß Sie nach mir verrückt sind, aber ich brauche Sie nicht, ich brauche überhaupt keinen anderen Menschen. Die neue Wirklichkeit nimmt mich völlig in Anspruch; ich brauche keine weiteren Aufregungen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja«, gab Hunter nach einer kurzen Pause zu. »Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig.« Er wandte sich ab und meinte dann: »Sehen wir uns lieber richtig um, nachdem jetzt genügend Licht vorhanden ist. Sie nehmen die linke Hälfte, aber warten Sie, bis Ihre Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt haben.«
Sie suchten einige Minuten lang schweigend ihre Umgebung mit den Augen ab. Dann begann Hunter wieder leise zu sprechen. »Ich gebe zu, daß Sie jetzt wahrscheinlich genügend mit sich selbst zu tun haben, bezweifle aber gleichzeitig, daß Sie jemals in Ihrem Leben wirklich verliebt gewesen sind. Paul haben Sie nur herumkommandiert und ausgenützt — das war ganz offensichtlich. Ich stelle mir vor, daß Sie Don von sich abhängig gemacht haben, indem Sie seiner Männlichkeit ab und zu geschmeichelt haben.«
»Interessant«, murmelte Margo.
»Ich bezweifle, daß die beiden jüngeren Männer ernsthafte Rivalen wären«, fuhr Hunter gelassen fort. »Morton Opperly ist schon gefährlicher, weil er eine symbolische Vatergestalt darstellt: ein unwiderstehlich anziehender Magier, der — ich möchte wetten, daß Sie davon träumen! — unsere junge Walküre eines Tages in sein stolzes Felsenschloß im Land der Höheren Mathematik entführen wird.«
»Sehr interessant«, stellte Margo fest. »Ich sehe ein schwaches Leuchten im Osten. Vielleicht kommt es von der Autobahn her.«
Hunter schwieg fast fünf Minuten lang. »Mein Gott, ist das eine Hundekälte!« sagte er dann spontan. »Wenn wir etwas näher zusammenrücken würden ...«
»Kommt nicht in Frage, Ross«, unterbrach Margo ihn rasch.
»Ich wollte keineswegs eine neue Masche ausprobieren«, widersprach er beleidigt. »Das wäre nur eine praktische Lösung. Ich bin schon fast erfroren, Margo.«
»Wickeln Sie sich fester in Ihre Decke«, schlug Margo lächelnd vor. »Oder nehmen Sie sich ein Beispiel an mir — ich bin nicht auf eine Wärmflasche angewiesen.«
»Eiskaltes Weibsbild«, sagte Hunter anklagend.
»Richtig«, gab Margo ungerührt zu. Sie stand vorsichtig auf. »Ich mache jetzt einen kleinen Erkundungsvorstoß die Straße entlang«, erklärte sie ihm. »Ich nehme das Gewehr mit. Sie bleiben hier und geben mir mit der Pistole Feuerschutz.«
Er fluchte leise hinter ihr her, als sie den Abhang hinabkletterte.
Der Wanderer war wieder hinter den Wolken verschwunden, als sie Doc weckten, weil es Zeit für die Wachablösung war. Er unterdrückte ein lautes Gähnen, reckte sich umständlich und wachte dann allmählich auf.
»Die Lampe auf dem Felsen braucht eine neue Batterie«, stellte er fest. »Ich habe sie hier in der Tasche. Wir hätten einen der Wagen umdrehen sollen, dann könnten wir die Scheinwerfer benützen. Aber jetzt ist es dazu zu spät — wir würden das ganze Lager aufwecken.«