»Klar«, antwortete Benjy. »Warum auch nicht? Schließlich haben wir schon fast alles andere probiert.«
»Da ist es!« rief Barbara Katz laut, um den Wind zu übertönen. Der gleiche Blitz, der die dunklen Mangrovenzweige sichtbar werden ließ, die sich heftig in dem Sturm bewegten, der auch die Wolken über den Nachthimmel trieb, zeigte ein weißes Dreieck zwischen den Bäumen. Es war der Bug eines Segelbootes, das fast fünf Meter über ihnen zwischen zwei Bäumen hing.
Barbara nahm die schwere Thermosflasche in die linke Hand und die Taschenlampe in die rechte; dann schaltete sie die Lampe ein, als sie auf die Bäume unter dem Bug zuging. In dem Lichtstrahl war zu erkennen, daß der tiefe Kiel auf den unteren Ästen ruhte.
Benjy legte den alten KKK mit seiner Decke an den Straßenrand.
Hester und Helen setzten ihre Bündel ab und beugten sich besorgt über den Alten.
Benjy kam auf Barbara zu. Er keuchte vor Anstrengung.
»Richten Sie ... die Lampe auf den Rumpf«, stieß er hervor.
Sie drängten sich durch das Unterholz und leuchteten zuerst eine Seite des Kiels ab, dann folgte die andere. Barbara las den Namen des Bootes: Albatros.
»Anscheinend hat es kein Leck«, stellte Benjy kurze Zeit später fest. »Der Mast muß allerdings ziemlich kurz abgebrochen sein, sonst hätten wir ihn gesehen. Wahrscheinlich treibt das Boot mit der Flut nach oben. Vielleicht sitzt es zu fest, aber das glaube ich nicht. Ich klettere am besten nach oben und lasse dann das Seil herunter.« Er wies auf das Seil, das er um die Brust geschlungen trug.
Der Wind hatte sich in der Zwischenzeit etwas gelegt. Benjy hob die Hände an den Mund und rief nach oben: »Hallo! Jemand an Bord?«
Zwei Sekunden später frischte der Wind wieder auf. Benjy drehte sich zu Barbara um. »Ich habe eben ein Geräusch gehört, glaube ich«, sagte er. »Aber es war nicht nur der Wind.«
»Ich auch«, antwortete Barbara. Ihre Zähne klapperten — weil der Wind so kalt war, versuchte sie sich einzureden. Sie richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe senkrecht nach oben. »Oh, mein Gott!«
Über die Seite des Bootes ragte ein kleines weißes Gesicht hinaus.
»Ein kleines Kind!« rief Benjy.
»Ein Baby!« stellte Helen, die inzwischen herangekommen war, verblüfft fest. Sie winkte nach oben. »Bleib nur dort, Baby! Nicht herunterfallen! Wir kommen schon!«
34
Als Hunter den Thunderbird langsam den vorletzten Hügel hinuntersteuerte, der sie noch von der Küstenstraße trennte, war die grünliche Sonne über dem Wasserhorizont noch immer hell genug, um zu zeigen, daß der frühere Strand mindestens zwei Kilometer breiter geworden war, als die Mitglieder der Gruppe ihn in Erinnerung hatten. Hunter drehte sich kurz nach seinen Fahrgästen um und grinste fröhlich, ohne über ihre grünliche Gesichtsfarbe zu erschrecken, die von der Sonne hervorgerufen wurde. Er hätte Hixon am liebsten zugerufen: »Was habe ich Ihnen gesagt? Völlige Ebbe — oder nicht weit davon entfernt! Ich habe genau richtig vermutet!«
»Sieh doch, Mommy«, sagte Ann. »Eine Ranke über der Straße.«
Hunter wußte, daß es keine Ranke, sondern vermutlich nur ein Zweig war, den der Sturm gestern abgerissen und mit sich fortgetragen hatte. Als die Reifen darüberrollten, war ein leises Plop! zu hören. Der Wagen rutschte leicht nach rechts; Hunter fing die Bewegung ab und verringerte die Geschwindigkeit. Das war eine völlig automatische Reaktion, denn wie alle anderen konzentrierte er seine Aufmerksamkeit völlig auf die Entfernung, die das Meer zurückgewichen war. Seine erste Schätzung — etwa zwei Kilometer — war entschieden zu niedrig gewesen. Hunter war zuerst verblüfft, dann fasziniert und schließlich nur noch erschrocken.
Die Sonne stand jetzt noch dichter über dem Horizont, so daß ihr Licht grüner als zuvor wirkte. Obwohl das Meer so weit entfernt war, roch es überall durchdringend nach Fisch. Im Augenblick herrschte völlige Windstille, so daß das Brummen der beiden Motoren unnatürlich laut hörbar war. Hunter stellte fest, daß auf der Küstenstraße keine anderen Fahrzeuge auftauchten — und merkte erst dann, wie unglaublich dumm es gewesen war, überhaupt welche zu erwarten.
Sie fuhren den letzten Hügel hinab. Der Wagen rutschte nochmals. Hunter steuerte gegen die Bewegung an und schaltete herunter.
»An das zertrümmerte Haus dort drüben kann ich mich nicht erinnern«, stellte Rama Joan nachdenklich fest.
»Und das alte Boot dort drüben war vorher auch noch nicht da, glaube ich wenigstens«, warf Margo ein.
»Seht euch nur die weißen Vögel dort drüben auf dem Hügel an!« kreischte Wanda. »Das sind doch tatsächlich Möwen!«
»Noch eine Ranke«, sagte Ann. »Nein, sogar zwei. Oh, und ein Fisch.«
Dieses letzte Wort verwandelte die Szene vor Hunters Augen in einen wahren Alptraum, obwohl er noch nicht klar zu erkennen vermochte, wo die Ursache dafür lag — sein Verstand weigerte sich, irgendeine wichtige Tatsache aufzunehmen, die deutlich sichtbar sein mußte. Hixon hupte hinter ihm. Wollte der Trottel ihn etwa überholen? Eins — zwei — drei — vier. Vier Huptöne bedeuteten etwas, aber Hunter konnte sich nicht darauf besinnen, denn er war zu sehr mit der Illusion beschäftigt, bereits unter dem Meeresspiegel weiterzufahren — das Schweigen, das grünliche Licht, die schwarze Straße die allmählich unter dem rutschigen Schlick verschwand, der Fischgeruch, die seltsamen ›Ranken‹ über der Straße, die nur Algen sein konnten ...
Viermal hupen bedeutet Halt! Hunter erinnerte sich plötzlich wieder daran, was Doc festgelegt hatte. Er bremste sofort, aber äußerst vorsichtig. Zunächst verringerte der Wagen kaum seine Geschwindigkeit, aber dann fuhr er doch langsamer und kam allmählich zum Stehen, wobei das Heck zur Seite rutschte, obwohl er die Bewegung aufzufangen versuchte. Schließlich stand der Wagen weil die Räder die drei oder vier Zentimeter hohe Schlammschicht auf der Straße vor sich her zu einem Berg zusammengeschoben hatten.
Hunter sah nach rückwärts, was ganz einfach war, weil der Wagen jetzt fast entgegengesetzt zu der ursprünglichen Fahrtrichtung stand. Der Lieferwagen hielt etwa zwanzig Meter hinter ihnen — oder vor ihnen, wenn man die neue Richtung berücksichtigte. Hunter spürte, daß seine Hände zitterten.
Rama Joan drückte das Furchtbare in Worten aus, als sie gelassen feststellte: »Wir müssen die Hochwassermarke vor einem halben Kilometer passiert haben.«
Das war also der Grund für seine Erregung, merkte Hunter — einfach der Gedanke daran, daß das Salzwasser vor nur sechs Stunden hier noch meterhoch gestanden hatte. Dabei hatte es Tiere, Pflanzen, Schlamm und Trümmer abgelagert und würde in weiteren sechs Stunden wieder den gleichen Abschnitt der Küste überschwemmen. Hunter dachte an die früher so wenig extremen Gezeiten und erschrak fast, als er sich überlegte, daß jetzt die Ebbe das Kontinentalschelf freigab, während die Flut die Vorhügel der Gebirge überschwemmte.
Die Frauen sind eigentlich unnatürlich ruhig, dachte er. Er wäre weniger überrascht gewesen, wenn sie geweint oder gejammert hätten.
Hixon, Doddsy, Wojtowicz und McHeath kamen die Straße entlang. Sie bewegten sich seltsam — mit steifen Beinen und leicht angehobenen Armen. Aber das kam wohl daher, daß die Straße so rutschig war.
Hixon und Doddsy blieben neben dem Thunderbird stehen, während die beiden anderen weitergingen. Der kleine Mann sah auf das Meer hinaus und sagte: »Das ist ...« Dann fehlten ihm die Worte.