Die grüne Sonne war inzwischen am Horizont untergegangen, aber der Himmel schimmerte weiterhin grünlich — blaß wie eine durchsichtige Woge im Westen, dunkel wie ein Wald im Osten.
Irgend etwas pochte leise. Hunter merkte, daß der Motor des Sportwagens noch immer lief. Er drehte den Zündschlüssel nach links.
Erst dann wurde ihm klar, daß alle ebenso verblüfft wie er waren.
Einige Minuten später hatten sie den ersten Schock allmählich überwunden. Sie waren aus den beiden Wagen geklettert und standen auf der Straße.
Wojtowicz und McHeath kamen langsam den Hügel herauf. Die Schuhe des jungen Mannes waren schlammverkrustet, seine Hose bis zu den Knien ebenfalls. »In der Richtung ist die Straße nicht befahrbar, Mister Hunter«, berichtete er. »Auf der Küstenstraße liegt der Schlamm noch viel höher.«
Wojtowicz nickte zustimmend. »Harry ist weiter als ich gegangen«, bestätigte er. »Sie brauchen sich nur seine Schuhe anzusehen.«
»Und das alles ist von nur drei Fluten abgelagert worden«, sagte der kleine Mann und schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
Hunter runzelte die Stirn. »Uns bleibt keine andere Wahl«, stellte er fest. »Wir müssen zurückfahren und die andere Straße benützen, die ebenfalls nach Vandenberg führt.« Er sah Hixon an. »Sie haben also doch recht gehabt.«
Hixon nickte wortlos. Er bückte sich und untersuchte die Räder des Sportwagens, der bis zu den Achsen im Schlamm festsaß. »Ich nehme an, daß ich Sie aus dem Zeug hier herausziehen kann«, sagte er. »Zum Glück habe ich ein langes Abschleppseil im Wagen, und dort hinten, wo wir stehen, ist der Schlamm nicht so hoch. Außerdem liegen im Werkzeugkasten auch Schneeketten, falls wir sie brauchen.«
»Ich möchte nicht als Schwarzseher gelten«, warf der kleine Mann ein, »aber wenn wir zurückfahren, besteht die Gefahr, daß wir mit den jungen Leuten in den Sportwagen zusammentreffen.«
Hixon zuckte mit den Schultern. »Das gehört zu den Risiken, die wir eingehen müssen. Es gibt keine andere Straße. Wir können nur hoffen, daß sie die Sperre nicht beseitigt haben und statt dessen in Richtung Malibu gefahren sind. Ich hole jetzt das Abschleppseil.«
»Hier sind wir nur fünf oder sechs Kilometer von Vandenberg entfernt«, sagte Margo zu Hunter. »Können wir nicht einfach zu Fuß gehen? Selbst in dem Schlamm hier müßten wir es in zwei bis drei Stunden schaffen.«
»Benützen Sie doch Ihren Kopf«, antwortete Hunter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Innerhalb der nächsten Stunden steht die Küstenstraße längst wieder unter Wasser. Dann hätten Sie sogar hier zehn Meter Ozean über sich.«
»Oh, ich werde immer dümmer«, seufzte Margo. »Am liebsten würde ich ...« Sie sprach nicht weiter.
»Macht Ihnen das Leben in der neuen Wirklichkeit nicht mehr soviel Spaß wie gestern?« erkundigte Hunter sich spöttisch.
Sie sah zu ihm auf. »Nein, Ross«, antwortete sie dann.
»Und wenn wir zu Fuß gehen, müssen wir Ray Hanks transportieren«, warf der kleine Mann ein. »Sein Zustand gefällt mir nicht, Ross. Ich habe ihm alle Schlafmittel gegeben, die er meiner Meinung nach vertragen kann. Als der Lieferwagen angehalten hat, ist er sofort eingeschlafen, aber ich nehme an, daß er wieder aufwacht, wenn wir weiterfahren. Er hat ziemliche Schmerzen.«
Dann kam Pop herangehumpelt. »Mister Hunter«, sagte er weinerlich, »ich kann einfach nicht mehr auf der offenen Ladefläche fahren. Mir tut schon der ganze Rücken weh.«
Hunter wollte eine heftige Antwort geben, aber Ida kam ihm zuvor. »Sie können an meiner Stelle vorn sitzen«, tröstete sie Pop. »Die Männer wissen ohnehin nicht, wie man sich richtig um Mister Hanks kümmern muß, und schließlich ist das eigentlich meine Aufgabe.«
Hixon kam zurück und hielt ein Ende des Abschleppseils in der Hand. »Machen Sie es irgendwo an der Vorderachse fest«, wies er Hunter an. »Kommen Sie damit zurecht?«
»Geben Sie das Seil mir«, sagte Wojtowicz und griff danach.
»Ich nehme an, daß der Wagen nicht mehr viel Benzin hat«, sagte der kleine Mann zu Hunter.
»Richtig, Mister Dodd«, warf Ann ein, die neben ihrer Mutter stand. »Die Benzinuhr steht schon auf Reserve.«
»Ich hole einen vollen Kanister«, meinte der kleine Mann und ging auf den Lieferwagen zu.
Hunter nickte wortlos. Er kam sich gleichzeitig überflüssig und ohnmächtig vor, was ihn wütend machte. Doc hätte an seiner Stelle vermutlich eine witzige Bemerkung gemacht, aber er war eben nicht Doc. Er warf Margo einen Blick zu und wandte sich schulterzuckend ab, als er sah, daß sie spöttisch lächelte.
Barbara Katz hatte die niedrige und enge Kabine der Albatros zuerst fast deprimierend gefunden, aber jetzt war sie froh über diese geringen Abmessungen, denn dadurch fand man immer in nächster Nähe einen Halt, wenn das Boot stampfte oder weiter überholte, als sie erwartet hatte. Und das leicht gewölbte Dach wirkte wegen seiner geringen Höhe irgendwie sicherer, wenn wieder ein Brecher dagegen schlug.
In der Kabine herrschte tiefe Dunkelheit, die nur unterbrochen wurde, wenn ein Blitz seinen Lichtschein von draußen durch die vier winzigen Bullaugen warf, die an beiden Seiten in den Rumpf eingelassen waren, oder wenn Barbara einige Sekunden lang ihre Taschenlampe einschaltete.
Der alte KKK lag in Decken gehüllt in einer der engen Kojen. Hester saß am Kopfende, hielt den Alten fest, wenn er zu rutschen drohte, und wiegte gleichzeitig das namenlose Baby in den Armen. Helen lag ausgestreckt in der zweiten Koje und jammerte leise vor sich hin — sie war seekrank —, während Barbara zusammengedrückt am Fußende dieser Koje hockte. Von Zeit zu Zeit hob sie eine Klappe im Fußboden der Kabine auf um in dem darunterliegenden Hohlraum nach Wasser zu fühlen. Bisher hatte sich in dem doppelten Boden kaum welches angesammelt.
Die Albatros war fast gekentert, bevor die nach Westen stürmende Flut sie aus den Mangrovenzweigen gehoben hatte. Dann war sie nur knapp einem Zusammenstoß mit einem großen Baumstamm entgangen, der im Wasser trieb. Von dann ab war das Ganze fast ein Vergnügungsausflug gewesen, bis die sturmgepeitschten Wellen das Boot so heftig zum Schlingern brachten, daß alle bis auf Benjy unter Deck Zuflucht suchten.
Nach einer langen Stille — das heißt, nach einer längeren Zeitspanne, in der nur das leise Weinen des Babys das Arbeiten des Holzes und die Geräusche von Wind und wehen hörbar gewesen waren — fragte Barbara: »Hester, wie geht es Mister K.?«
»Er ist vor ein paar Minuten gestorben, Miß Barbara«, antwortete Hester. »Ruhig, Baby, du hast doch genügend Büchsenmilch bekommen.«
Barbara verarbeitete diese Information. Dann sagte sie langsam: »Hester, vielleicht wickeln wir ihn einfach in die Decke und schaffen ihn nach vorn. Dort ist gerade Platz genug — und dann könnten Sie sich endlich hinlegen.«
»Nein, lieber nicht, Miß Barbara«, antwortete Hester entschlossen. »Wir dürfen nicht riskieren, daß der Nagel in seiner Hüfte bricht oder daß etwas anderes mit ihm passiert. Er ist jetzt in guter Verfassung, obwohl er tot ist, und wenn er ruhig liegenbleibt, ändert sich daran nichts mehr. Dann haben wir einen Beweis dafür, daß wir uns nach besten Kräften bis zuletzt um ihn gekümmert haben.«
»Mein Gott, eine Leiche in der Kabine!« rief Helen und richtete sich entsetzt auf. »Das halte ich nicht aus — ich muß nach oben!«
»Leg dich hin, dumme Gans!« fuhr Hester sie an. »Miß Barbara, halten Sie Helen fest!«