Das war nicht mehr nötig. Helen hatte einen neuen Anfall von Seekrankheit und sank kraftlos in ihre Koje zurück.
Etwas später stampfte und rollte die Albatros weniger heftig. Die Brecher schlugen nicht mehr bis über das Kabinendach.
»Ich muß Benjy etwas Kaffee bringen«, sagte Barbara.
»Nein, das dürfen Sie nicht, Miß Barbara.«
»Doch, ich tue es aber«, sagte Barbara zu Hester.
Als sie die Schiebetür an der Rückseite der Kabine vorsichtig geöffnet hatte und den Kopf nach draußen steckte, sah sie Benjy hinter dem Steuerrad hocken. Die dichte Wolkendecke am Himmel war aufgerissen, so daß der Wanderer jetzt wieder sichtbar wurde.
Barbara kroch auf das Deck hinaus. Der Wind kam vom Bug her, aber er war etwas abgeflaut. Sie zog die Schiebetür hinter sich zu und kroch weiter auf Benjy zu.
Er trank den Kaffee aus der kleinen Thermosflasche, die sie mitgebracht hatte, und dankte ihr mit einem kurzen Kopfnicken.
Sie richtete sich auf den Knien auf und starrte über das niedrige Kabinendach. Der Wanderer, der jetzt wieder hinter den Wolken verschwand, zeigte in seinem letzten Licht nur Wellen, die allerdings recht gefährlich wirkten.
»Ich habe mir eingebildet, es sei etwas ruhiger geworden«, rief Barbara Benjy zu. Sie mußte laut schreien, um den Wind zu übertönen.
Benjy wies auf den Bug der Albatros, der eben wieder fast in den Wogen verschwand. »Ich habe eine Matratze«, rief er zurück, »und sie mit einer langen Leine am Bug festgebunden. Dann habe ich sie über Bord geworfen. Sie hält das Boot im Wind, so daß es die Wellen im rechten Winkel anschneidet.«
Barbara erinnerte sich daran, als was diese Vorrichtung bekannt war — als Seeanker.
»Wo sind wir Ihrer Meinung nach, Benjy?« fragte sie laut.
Er lachte und übertönte dabei sogar den Wind. »Ich weiß nicht, ob wir im Atlantik oder im Golf oder sonstwo schwimmen, Miß Barbara! Wichtig ist nur, daß wir noch immer obenauf sind!«
35
Der Thunderbird und der Lieferwagen der Untertassen-Beobachter rollten im Licht ihrer Scheinwerfer langsam und vorsichtig die Bergstraße entlang, an der in regelmäßigen Abständen Wegweiser nach Vandenberg zwei standen. Schon zweimal hatten die übermüdeten Fahrgäste aussteigen und schaufeln müssen, weil kleine Erdrutsche die Straße versperrten; die Hindernisse waren allerdings nie so groß gewesen, daß es sich gelohnt hätte, die letzte Ladung der Energiepistole auf sie zu vergeuden. Hunter war fest davon überzeugt, daß schon im nächsten Augenblick wieder ein neuer Erdrutsch im Scheinwerferlicht des Sportwagens auftauchen würde, der die Spitze übernommen hatte. Hinter ihm rasselte der Lieferwagen auf seinen Ketten einher.
Der Ostwind, der über die Berge hinter ihnen strich, war ausgesprochen warm — ein Glück für die völlig übermüdeten Menschen in dem Thunderbird und auf der Ladefläche, die dem Wetter ausgesetzt waren. Nur die beiden Hixons und Pop, die im Führerhaus des Lieferwagens saßen, merkten wenig davon.
Bisher war das einzige Geräusch von den Motoren und den Reifen gekommen, aber jetzt wurde von vorn ein leises rhythmisches Zischen und Brausen hörbar.
Der Wanderer war zwei Stunden nach Sonnenuntergang erschienen und zog jetzt langsam über den bleigrauen Himmel im Osten. Sein warmes purpurrotes und goldenes Licht erzeugte die Illusion, er sei die Ursache der freundlich warmen Brise. Der Wanderer war allerdings nicht mehr ganz kreisrund, sondern eher etwas ausgebaucht — wie der Mond zwei Tage nach Vollmond. Um seinen Äquator herum hingen die blitzenden und glitzernden Trümmer des Erdtrabanten, den er zerstört hatte, und bildeten einen Ring, der aus Diamanten zu bestehen schien.
Die Straße führte jetzt leicht ansteigend zu einem breiten Sattel hinauf, an dessen beiden Seiten grasbewachsene Abhänge bis an die Felsen reichten, die den Hügelrücken markierten. Der Thunderbird erreichte den höchsten Punkt des Sattels, bog nach rechts an den Straßenrand ab, hielt mit vier Huptönen und wartete mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Der Lieferwagen hielt dicht dahinter und löschte seine Lichter ebenfalls.
Die meisten Mitglieder der Gruppe hatten im Laufe ihres Lebens schon einmal Gelegenheit gehabt, nachts von einem Flugzeug oder einem Berggipfel aus auf Bodennebel oder eine niedrige Wolkenschicht herabzusehen, aus der Berge und Hügel herausragten. Sie hatten sich dabei vielleicht sogar darüber gewundert, wie weit sich diese helle Schicht erstreckte — ein wahres Wolkenmeer. Jetzt hatten diese Menschen zwei oder drei oder mehr Sekunden lang den Eindruck, wieder den gleichen Augenblick vor sich zu haben — diesmal allerdings nicht bei Mondschein, sondern im Licht des Wanderers.
Dieser illusorische nächtliche Wolkenozean begann kaum hundert Meter weiter und nicht mehr als zwanzig Meter unter ihnen. Er erstreckte sich bis an den Horizont im Westen und folgte dabei genau den Konturen der Hügel. Innerhalb des scheinbaren Wolkenmeeres war nur eine Insel sichtbar — sie war niedrig und flach, aber doch so groß, daß sie die dunklen Hügel im Norden zu berühren schien. Rote und weiße Lichter blinkten an manchen Stellen der Insel auf, und im Licht des Wanderers wurden helle Gebäude mit ebenso hellen Dächern sichtbar. Als die Mitglieder der Gruppe die Insel noch verwundert anstarrten, wurden sie auf ein leises Brummen aufmerksam. Sekunden später tauchten ein rotes und ein grünes Licht aus der Dunkelheit auf und näherten sich der Insel — ein Flugzeug, das dort landete. Das Festland war durch einen etwa vierhundert Meter breiten Kanal von der Insel getrennt.
Dann verschwand die Illusion allmählich, als den Untertassen-Beobachtern nacheinander klar wurde, daß sie nicht auf ein Wolkenmeer herabsahen, das sich bis zum Horizont erstreckte. Sie hatten weder Nebel noch Wolken vor sich, sondern den Pazifik, dessen Wellen sich hundert Meter vor ihnen an den Abhängen und der Straße brachen. Jetzt erkannten sie, daß die Insel in Wirklichkeit Vandenberg zwei war; und daß der Kanal zwischen Festland und Insel unter anderem die Küstenstraße bedeckte, wo sie an dem Luftwaffenstützpunkt entlang landeinwärts führte, der das Mondprojekt beherbergte.
Hunter, der noch immer unbeweglich am Steuer des Sportwagens saß, spürte plötzlich eine Hand auf seiner rechten Schulter. Er legte seine darauf, drehte sich um und lächelte Margo zu, die sein Lächeln erwiderte.
Ohne seine Hand von ihrer zu nehmen, rief er zu Hixon zurück: »Wir übernachten hier. Wenn die Ebbe kommt, fahren wir weiter nach Vandenberg.«
Don Merriam sah durch den Fahrstuhlschacht nach oben und stellte fest, daß am Himmel des Wanderers ein Sturm rotschwarze Wolken durcheinander wirbelte, als seien die Farben absichtlich deshalb ausgesucht worden, weil sie zu dem Pelz seines Begleiters paßten, der schweigend neben ihm stand.
Der Kreis wurde zunächst langsam, aber dann immer rascher größer. Dann hielt der Fahrstuhl an, und sein Boden war wieder nicht mehr von der Oberfläche des Planeten zu unterscheiden.
Nichts schien sich verändert zu haben. Weit vor Don erhob sich noch immer die geheimnisvolle Röhre, durch die das zertrümmerte Gestein des Mondes in das Innere des Wanderers transportiert wurde. Etwas näher standen die seltsamen plastischen Strukturen, die an eine Armee abstrakter Statuen erinnerten. Und der Schacht, aus dessen Tiefe Lichter blitzten, hatte sich ebenfalls nicht sichtbar verändert.
Dann sah Don, daß nur noch eine Untertasse — mit dem violett-gelben Yin-Yang auf der Außenseite — über dem ›Baba Yaga‹ schwebte. Sein eigenes Mondschiff glänzte wie frisch poliert und hatte statt einer Leiter eine mannsdicke Röhre unter dem Einstieg hängen, die teleskopartig zusammengeschoben zu sein schien.