ca. 450
DIE LANGHAARIGEN MEROWINGER An der Nordseeküste siedelten außerdem die Friesen und ihre Nachbarn, die Franken. Angestoßen von der Wanderung der Angeln und Sachsen schoben sich die Franken nun entlang der Küste nach Süden vor. Um 450 überschritten fränkische Siedler Rhein und Schelde.
Die Nachkommen des legendären Merowech bildeten in der Gegend des heutigen Ostbelgien/Nordfrankreich ein germanisches Kleinkönigreich. Merowech, der erste Salfranken-Häuptling, soll aus der Verbindung der Königin mit einem stierköpfigen Seeungeheuer hervorgegangen sein, das sehr an den Minotaurus erinnert. »Merowinger« ist also der Name der fränkischen Königsdynastie. Sie trugen besonders lange Haare, und diese galten als Ausdruck ihrer übernatürlichen Königsmacht, berichtet der frühmittelalterliche Verfasser der Franken-Chronik Gregor von Tours. Den Herrschaftsschwerpunkt vermutet man zu jener Zeit in der Umgebung von Tournai. Dort wurde 1653 zufällig das prunkvoll ausgestattete Grab des Königs Childerich gefunden. Auf seinem Siegelring steht Childerici Regis, dem »König Childerich« gehörend. Er war der Vater von Chlodwig, dem eigentlichen Begründer des Abendlandes.
497
»IN DIESEM ZEICHEN WIRST DU SIEGEN« Chlodwig besiegte den letzten römischen Herrscher in Nord- und Mittelgallien, ließ fränkische Siedler nachrücken und konsolidierte so klug seine Herrschaft. Später wurde sogar die Hauptstadt in dieses Gebiet verlegt: nach Paris.
Der entscheidende Moment aber war die Schlacht gegen die Alemannen bei Zülpich in der Eifel (496). Sie wurde für Chlodwig zum Schlüsselerlebnis. »In diesem Zeichen wirst du siegen«, prophezeite ihm eine Erscheinung. Der heidnische Heerführer gelobte, dem Christengott zu vertrauen, errang den Sieg und unterwarf die mächtigen Alemannen. Als Dank für den göttlichen Beistand ließ sich Chlodwig nach der Schlacht mitsamt seinem Kriegeradel, angeblich 3000 Männer, in einer in den Chroniken bewegend geschilderten Zeremonie in Reims taufen: Eine Taube flog in letzter Sekunde mit der Salböl-Ampulle im Schnabel in die Kathedrale ein.
Das für die gesamte weitere Geschichte Entscheidende war die Taufe nach katholischem Ritus. Die anderen Germanenvölker waren Arianer. Weil Chlodwig Katholik wurde, erhielt der von den Goten bedrängte, schwache Papst einen neuen Schutzherrn. Als Gegenleistung salbte und krönte er Chlodwig zum König. Die Taufe in Reims war die Geburtsstunde des Abendlandes. Bei dieser Ausrichtung aller westeuropäischen Königreiche auf Rom blieb es. Die Franzosen sehen im Übrigen in dieser Zeremonie problemlos den Beginn ihrer Nationalgeschichte – was ein bisschen verfrüht ist. Bis zu seinem Tod brachte Chlodwig noch das inzwischen von den stammesverwandten ripuarischen Franken besiedelte Gebiet rheinaufwärts und mainaufwärts unter seine Herrschaft; »Franken« und »Frankfurt«, das später auch ein Kerngebiet des karolingischen und deutschen Kaisertums wurde, erinnern daran.
Nach dem Ende des Ostengotenreiches von Theoderich in Italien machte sich Kaiser Justinian I. sogleich an die Rückeroberung der Region sowie weiterer Reichsteile. Justinian, der von 527 bis 565 regierte, verließ Konstantinopel selten, aber dank seiner herausragenden Feldherren gelang ihm eine Wiederherstellung des Oströmischen Reiches zumindest im ganzen Mittelmeerraum.
530
RÖMISCHES RECHT Nach der gelungenen militärischen Wiederherstellung des Römischen Reiches unter christlichen Vorzeichen wollte Justinian das Reich auch auf eine gesicherte rechtliche Grundlage stellen. Er veranlasste um 530 die Sammlung des gesamten römischen Rechts, das innerhalb weniger Jahre als Corpus iuris civilis zusammengetragen wurde. Dies war der wichtigste fundamentale Beitrag der Römer zum modernen Europa: Im Hochmittelalter durch Gelehrte vor allem an der Universität von Bologna wiederentdeckt, wurde es als sogenanntes »Gemeines Recht« Grundlage der kontinentalen Jurisdiktion und der großen Gesetzeswerke vom Code Napoleon (Code civil) in Frankreich bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland. So gesehen ist römisches Recht auch heute geltendes Recht.
537
»SALOMO, ICH HABE DICH ÜBERTROFFEN!« Das bedeutendste Bauwerk von Byzanz wurde auf Justinians Veranlassung in nur fünf Jahren Bauzeit errichtet. Bei der Einweihung 537 soll er ausgerufen haben: »Salomo, ich habe dich übertroffen!«
Mit dem zentralen Kuppelbau orientierten sich die Baumeister bewusst am legendären Vorbild des Tempels in Jerusalem. Die Hagia Sophia wurde ihrerseits zum Vorbild für die gesamte Architektur der griechisch-orthodoxen und russisch-orthodoxen Gotteshäuser, ebenso für die islamische Baukunst der Moscheen. Jahrhundertelang blickte die benachbarte islamische Welt auf dieses »achte Weltwunder« mit seinen – heute leider übertünchten – schimmernden Mosaiken.
ab 531
POLO UND SCHACH – SASSANIDEN II Justinian und der von 531 bis 579 herrschende Perserkönig Chosrau I. aus der Dynastie der Sassaniden waren ebenbürtige Gegenspieler. Chosrau führte den Titel Schah und knüpfte damit bewusst an die persische Tradition der Achämeniden an, die 800 Jahre zuvor von Alexander besiegt worden waren. Das sassanidische Perserreich mit seiner (toleranten) zoroastrischen Staatsreligion war eine hochkultivierte Rittergesellschaft, Panzerreiter in Turbanen und Pluderhosen sozusagen. Am märchenhaft prächtigen Sassanidenhof pflegte man Jagd und Polo. Das »königliche« Schachspiel, vermutlich aus Indien übernommen, wurde durch sie nach Europa weitervermittelt (»Schach« = persisch Schah).
Chosrau förderte den Ost-West-Austausch. Über die Seidenstraße wurde der Fernhandel nach China intensiviert. Er nahm griechische Philosophen nach der Schließung der platonischen Akademie durch Justinian auf, ließ philosophische Texte der Griechen ins Persische übersetzen ebenso wie indische Märchen, deren Stoffe später den Arabern bekannt wurden. Das Sassanidenreich vom Euphrat bis zum Indus ist neben Byzanz das letzte große spätantike Reich, bevor der gesamte Nahe und Mittlere Osten unter die Herrschaft des Islam gerät. Der Sassaniden-Hof wurde zum Vorbild des mittelalterlichen Bagdad. Chosrau selbst wurde zur legendären Figur in Tausendundeine Nacht.
Was danach geschah: Justinian hatte fast 40 Jahre lang regiert (527–565). Unter ihm umfasste das Oströmische Reich zum letzten Mal die gesamte östliche Mittelmeerwelt: Balkan, Kleinasien, Ägypten, Nordafrika, Sizilien und ganz Italien. Kurz nach seinem Tod ging als Erstes Italien an die Langobarden verloren.
ca. 630
BYZANZ In Konstantinopel kam durch Heraklios I. (575–641) eine neue Dynastie auf den Thron, die sich in dramatischen Kämpfen gegen die Sassaniden behaupten musste. 614 eroberten die Sassaniden Jerusalem, entführten das Heilige Kreuz und standen vor den Mauern von Konstantinopel. Als letzten Ausweg startete Heraklios eine Gegenoffensive, drang bis in die Hauptstadt der Perser vor und entriss ihnen 629 die Kreuzesreliquie. Er führte sie im Triumph nach Konstantinopel und brachte sie anschließend persönlich nach Jerusalem zurück. Heraklios verzichtete auf den römischen Kaisertitel Imperator und nahm 629 den griechischen Titel Basileus an – ein Symbol für den Übergang vom Oströmischen Reich zum griechisch-byzantinischen Kaisertum des Mittelalters. Griechisch wurde Amtssprache. In der römischen Cäsarentradition stand der byzantinische Kaiser hoch über allen Menschen und galt als »heilige Person«. In der christlich-orthodoxen Tradition war er »Stellvertreter Gottes« und Oberhaupt der Kirche (und nicht etwa der Patriarch). Dermaßen entrückt näherte man sich ihm nur sehr unterwürfig, was ein kompliziertes Hofzeremoniell hervorbrachte. Im byzantinischen Mittelalter entwickelte sich auch kein Lehensstaat mit »Reichstagen«, sondern es wurde direkt, von der Zentrale aus regiert. Byzanz blieb bis in die Renaissance die mit Abstand kultivierteste und bevölkerungsreichste Großstadt Europas, eine Drehscheibe des Ost-West-Handels. Die Sitte, mit der Gabel zu essen, gelangte im Hochmittelalter durch byzantinische Prinzessinnen nach Europa. Messer hatten die Barbaren seit jeher benutzt.