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Ermutigend an der Handy-Seuche in meiner Manhattaner Nachbarschaft ist, dass ich, neben all den SMS-Zombies und brabbelnden Party-Planern auf den Bürgersteigen, dann und wann neben einem Menschen hergehe, der einen waschechten Streit mit jemandem hat, den er liebt. Ich bin sicher, dass diese Leute lieber nicht auf offener Straße streiten würden, aber so ist es nun mal gekommen, und jetzt verhalten sie sich sehr, sehr uncool. Sie brüllen, machen Vorwürfe, betteln, beleidigen. Dergleichen lässt mich hoffen für die Welt.

Was nicht heißen soll, dass es in der Liebe nur ums Streiten ginge oder dass radikal ichbezogene Menschen nicht zu Vorwürfen und Beleidigungen fähig wären. Worum es in der Liebe wirklich geht, ist abgrundtiefe Empathie, geboren aus der Erkenntnis des Herzens, dass der andere haargenau so wirklich ist wie man selbst. Und deshalb ist die Liebe, wie ich sie verstehe, immer konkret. Der Versuch, die ganze Menschheit zu lieben, mag ehrenhaft sein, seltsamerweise jedoch konzentriert er sich auf das eigene Ich und dessen moralisches oder spirituelles Wohlergehen. Um einen konkreten Menschen zu lieben hingegen, sich mit seinen Nöten und Freuden zu identifizieren, als wären sie die eigenen, muss man ein Stück des eigenen Ichs aufgeben.

Als ich ein Senior im College war, belegte ich das erste Seminar, das dort je zur Literaturtheorie angeboten wurde, und verliebte mich in die brillanteste Studentin. Uns beiden gefiel das Gefühl von Macht, das uns die Literaturtheorie sogleich vermittelte — in dieser Hinsicht ähnelt sie der Konsumtechnologie — , und wir schmeichelten uns, wie viel intellektueller wir doch wären als die anderen Kids, die immer noch diese alten zähen Textinterpretationen machten. Aus diversen theoretischen Überlegungen heraus fanden wir es auch cool zu heiraten. Da tauchte meine Mutter auf, die zwanzig Jahre bemüht gewesen war, aus mir einen Menschen zu machen, der sich nach hingebungsvoller Liebe sehnt, und riet mir, ich solle meine Zwanziger «frei und ungebunden» verbringen, wie sie es ausdrückte. Da ich davon ausging, dass sie in allem falschlag, nahm ich natürlich an, dass sie auch hierin falschlag. Ich musste selbst und auf die harte Tour herausfinden, was für eine schmutzige Angelegenheit die Hingabe ist.

Das Erste, was wir über Bord warfen, war die Theorie. Wie meine zukünftige Frau nach einer misslichen Szene im Bett einmal unvergesslich bemerkte: «Du kannst nicht gleichzeitig dekonstruieren und dich ausziehen.» Wir verbrachten ein Jahr auf verschiedenen Kontinenten und begriffen ziemlich schnell, dass es zwar Spaß machte, seitenlange Briefe aneinander mit theoretischen Riffs zu füllen, aber längst nicht so viel Spaß, diese Seiten dann zu lesen. Doch was mir die Theorie wirklich verleidete — und mich vom obsessiven Nachdenken über meine Wirkung auf andere befreite — , war meine Liebe zur Literatur. Es mag eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen der Überarbeitung eines Stücks Literatur und der Aktualisierung der eigenen Internetseite oder des eigenen Facebook-Profils geben, doch eine Seite Prosa hat nicht diese polierte Oberfläche, die das Selbstbild zu schönen hilft. Wenn man das Geschenk, als das man die Literatur anderer begreift, zurückzugeben versucht, kann man am Ende das, was auf den eigenen Seiten verlogen oder aus zweiter Hand ist, nicht ignorieren. Diese Seiten sind auch ein Spiegel, und wenn man die Literatur wirklich liebt, wird man begreifen, dass nur die Seiten bewahrenswert sind, die zeigen, wie man wirklich ist.

Das Risiko besteht hier natürlich darin, zurückgewiesen zu werden. Dann und wann nicht gemocht zu werden, das halten wir alle aus, gibt es doch einen unendlich großen Pool potenzieller Möger. Doch das eigene Ich ganz zu exponieren, nicht nur die gefällige Oberfläche, und dann seine Zurückweisung zu erleben, kann katastrophal schmerzhaft sein. Die Aussicht auf Schmerz ganz allgemein, auf den Schmerz des Verlusts, der Trennung, des Todes macht die Versuchung so groß, die Liebe zu meiden und im sicheren Reich des Gefallens zu bleiben. Meine Frau und ich, die wir zu jung geheiratet hatten, gaben schließlich so viel von uns selbst auf und fügten einander so viel Schmerz zu, dass wir beide gute Gründe hatten zu bereuen, den Sprung jemals gewagt zu haben.

Und doch kann und will ich es nicht wirklich bereuen. Zum einen hat uns das Ringen um ein aktives Würdigen unserer Bindung als Menschen geformt; wir waren keine Helium-Moleküle, die träge durchs Leben schwebten; wir waren gebunden, und wir veränderten uns. Zum anderen — und das könnte heute meine zentrale Botschaft sein — tut Schmerz weh, aber er bringt dich nicht um. Bedenkt man die Alternative — einen narkotisierten, technisch begünstigten Traum von Selbstgenügsamkeit — , dann erscheint der Schmerz als das natürliche Produkt und der natürliche Indikator des Lebendigseins in einer widerständigen Welt. Ohne Schmerz durchs Leben zu kommen heißt, nicht gelebt zu haben. Sogar sich zu sagen: «Oh, zu dieser Herz-und-Schmerz-Geschichte komme ich später, vielleicht wenn ich so dreißig bin», heißt, sich zehn Jahre lang bloß darauf zu beschränken, einen Platz auf dem Planeten zu besetzen und dessen Ressourcen zu vernichten. Es heißt (und ich meine das wirklich im verdammenden Wortsinn), ein Konsument zu sein.

Was ich zuvor gesagt habe — dass die Bindung an etwas, das man liebt, einen dazu zwingt, sich dem zu stellen, der man wirklich ist — , mag insbesondere für das Schreiben gelten, aber es trifft auf so gut wie jede Arbeit zu, die einem viel bedeutet. Ich möchte hier schließen, indem ich über eine weitere Liebe von mir spreche.

Als ich im College war, und noch viele Jahre später, gefiel mir die Natur. Ich liebte sie nicht, aber ganz bestimmt gefiel sie mir. Sie kann sehr schön sein, die Natur. Und da ich für die Kritische Theorie entflammt war und nicht nur nach etwas suchte, was ich falsch finden konnte in der Welt, sondern auch nach Gründen, die dafür Verantwortlichen zu hassen, fühlte ich mich natürlich von der Umweltbewegung angezogen, denn in Sachen Umwelt lief doch gewiss jede Menge schief. Und je mehr ich auf das sah, was falsch war — eine explodierende Weltbevölkerung, explodierende Ressourcenvernichtung, steigende Temperaturen, Vermüllung der Ozeane, Abholzung unserer letzten Urwälder — , desto wütender und hasserfüllter wurde ich. Mitte der Neunziger schließlich, ungefähr zu der Zeit, als meine Ehe zerbrach und ich befand, Schmerz sei das eine, etwas ganz anderes aber sei es, für den Rest des Lebens immer wütender und unglücklicher zu werden, traf ich ganz bewusst die Entscheidung, mir keine Sorgen mehr um die Umwelt zu machen. Ich persönlich konnte nichts Bedeutsames zur Rettung des Planeten beitragen, und ich wollte mich den Dingen widmen, die ich liebte. Auf meinen CO2-Fußabdruck achtete ich nach wie vor, weiter jedoch konnte ich nicht gehen, ohne in Wut und Verzweiflung zurückzufallen.

Und dann passierte mir etwas Komisches. Es ist eine lange Geschichte, im Wesentlichen aber verliebte ich mich in die Vögel. Ich wehrte mich mächtig dagegen, denn Vögel zu beobachten ist uncool, weil alles, was wahre Leidenschaft verrät, per definitionem uncool ist. Stück für Stück jedoch, wider mich selbst, entwickelte ich diese Leidenschaft, und auch wenn die eine Hälfte einer Passion Obsession ist — die andere Hälfte ist Liebe. Und so, ja, führte ich eine pingelige Liste der Vögel, die ich gesehen hatte, und, ja, unternahm alles Erdenkliche, um weitere Arten zu sehen. Doch, und das ist nicht weniger wichtig, wann immer ich einen Vogel sah, irgendeinen Vogel, selbst eine Taube oder ein Rotkehlchen, spürte ich mein Herz vor Liebe überfließen. Und wie ich heute zu erklären versucht habe: Mit der Liebe fangen die Probleme an.