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Denn nun, da mir die Natur nicht bloß gefiel, sondern ich einen konkreten und lebendigen Teil von ihr liebte, konnte ich gar nicht anders, als mich erneut um die Umwelt zu sorgen. Die Nachrichten von dieser Front waren nicht besser als damals, als ich entschieden hatte, mich nicht mehr um sie zu scheren — eigentlich waren sie sogar erheblich schlechter — , nur waren die bedrohten Wälder und Feuchtgebiete und Ozeane für mich nicht länger bloß eine schöne Szenerie, an der ich mich erfreute. Sie waren das Zuhause von Tieren, die ich liebte. Und an diesem Punkt kam es zu einem seltsamen Paradox. Meine Wut und mein Schmerz und meine Verzweiflung über den Planeten wurden durch meine Sorge um die wilden Vögel nur noch größer, und doch wurde es, während ich mich mit Artenschutz beschäftigte und mehr über die Gefahren erfuhr, denen Vögel ausgesetzt sind, seltsamerweise leichter, nicht schwerer, mit meiner Wut und meinem Schmerz und meiner Verzweiflung zu leben.

Wie kann das gehen? Zum einen, glaube ich, öffnete mir die Liebe zu den Vögeln die Tür zu einem wichtigen, weniger ich-zentrierten Teil meiner selbst, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Statt weiter durch mein Leben als Weltbürger zu driften, Gefallen zu finden und Missfallen zu hegen und mir meine Hingabe für später aufzusparen, war ich gezwungen, mich einem Ich zu stellen, das ich entweder vom Fleck weg zu akzeptieren oder rundheraus abzulehnen hatte. Das eben macht die Liebe mit einem Menschen. Denn für uns alle gilt nun einmal, dass wir eine Weile am Leben sind, aber in Kürze sterben werden. Diese Tatsache ist die Wurzel all unserer Wut und unseres Schmerzes und unserer Verzweiflung. Und vor dieser Tatsache kann man entweder weglaufen oder sie, über den Weg der Liebe, annehmen.

Wie gesagt, die Sache mit den Vögeln kam für mich sehr unerwartet. Bis dahin hatte ich nicht viele Gedanken auf Tiere verschwendet. Vielleicht ist es Pech, dass ich meinen Weg zu den Vögeln so relativ spät im Leben gefunden habe, vielleicht ist es Glück, dass ich ihn überhaupt gefunden habe. Aber wenn so eine Liebe einen erst einmal erwischt, wie spät oder früh auch immer, verändert sie die eigene Beziehung zur Welt. Ich zum Beispiel hatte nach ein paar frühen Experimenten den Journalismus aufgegeben, weil mich die Welt der Fakten nicht so sehr begeisterte wie die Welt der Fiktion. Doch nachdem mich meine Vogelkonversionserfahrung gelehrt hatte, auf meinen Schmerz und meine Wut und Verzweiflung zu- statt davor wegzulaufen, nahm ich eine andere Art journalistischer Aufträge an. Was immer mich zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten abstieß, wurde zu dem, worüber ich schreiben wollte. Im Sommer 2003, als die Republikaner dem Land Dinge antaten, die mich rasend machten, ging ich nach Washington. Ein paar Jahre später ging ich nach China, weil mein Zorn darüber, wie die Chinesen ihre Umwelt verwüsteten, mich nachts nicht schlafen ließ. Ich fuhr ans Mittelmeer, um Jäger und Wilderer zu interviewen, die ziehende Singvögel abschlachten. Und immer, wenn ich dem Feind begegnete, stieß ich auf Menschen, die ich wirklich mögen — in manchen Fällen geradezu lieben konnte. Urkomische, generöse, brillante schwule Mitarbeiter der Republikaner. Furchtlose, wundertätige junge chinesische Naturliebhaber. Einen waffenvernarrten italienischen Juristen mit sehr sanftem Blick, der den Tierrechtler Peter Singer zitierte. In jedem Fall fiel mir die pauschale Antipathie, die ich so leicht entwickelt hatte, nicht mehr so leicht.

Wenn man in seinem Zimmer bleibt und tobt oder spottet oder die Achseln zuckt, wie ich es viele Jahre lang getan habe, sind die Welt und ihre Probleme entmutigend. Wenn man aber rausgeht und sich in eine wirkliche Beziehung zu wirklichen Menschen oder auch nur wirklichen Tieren setzt, besteht die sehr reale Gefahr, einige von ihnen zu lieben. Und wer weiß, was dann mit einem geschieht?

Danke.

(Übersetzt von Wieland Freund)

Weiter weg

Im Südpazifik, achthundert Kilometer vor der Küste von Chile, liegt eine verboten steile Vulkaninsel, zehn Kilometer lang und sechs Kilometer breit, die von Millionen Seevögeln und Tausenden Seebären bewohnt wird, aber frei von Menschen ist. Nur in den wärmeren Monaten fahren ein paar Fischer raus, um Hummer zu fangen. Will man die Insel, die offiziell Alejandro Selkirk heißt, erreichen, so fliegt man in einem Achtsitzer, der zweimal wöchentlich verkehrt, zunächst auf eine etwa hundertfünfzig Kilometer weiter östlich gelegene Insel. Dort steigt man in ein kleines offenes Boot und fährt von der Landepiste zum einzigen Dorf des Archipels, wartet darauf, dass man gelegentlich von einer der Barkassen auf die zwölfstündige Ausfahrt mitgenommen wird, und muss dann oft noch länger, manchmal tagelang warten, bis das Wetter es zulässt, dass man an der felsigen Küste an Land geht. In den sechziger Jahren haben chilenische Tourismusvertreter die Insel nach Alexander Selkirk umbenannt, dem schottischen Seemann, dessen Geschichte vom einsamen Leben auf dem Archipel wahrscheinlich die Grundlage für Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe war, aber die Einheimischen verwenden immer noch ihren ursprünglichen Namen, Más Afuera: Weiter weg.

Im Spätherbst des vergangenen Jahres war es mir ein ziemlich starkes Bedürfnis, weiter weg zu sein. Vier Monate lang war ich nonstop mit einem Roman auf Tour gewesen und willenlos meinem Terminkalender gefolgt, bis ich mich mehr und mehr wie die kleine Raute auf dem Ladebalken eines Mediaplayers fühlte. Wesentliche Teile meiner persönlichen Geschichte starben innerlich ab, weil ich zu oft über sie sprach. Und jeden Morgen die gleiche wiederbelebende Dosis Nikotin und Koffein; jeden Abend die gleiche Attacke auf die E-Mails in meinem Postfach; jede Nacht die gleiche Trinkerei für das gleiche hirnvernebelnde bisschen Behagen. Ab einem gewissen Punkt, nachdem ich über Más Afuera gelesen hatte, stellte ich mir vor, abzuhauen und dort, wie Selkirk, alleine zu sein, im Innern einer Insel, auf der niemand, nicht mal zeitweise, lebt.

Außerdem gefiel mir die Idee, in der Zeit dort noch einmal das Buch zu lesen, das gemeinhin als erster englischer Roman gilt. Robinson Crusoe war das großartige frühe Zeugnis eines radikalen Individualismus, die Geschichte des praktischen und psychischen Überlebens eines ganz normalen Menschen in völliger Isolation. Das mit dem Individualismus verbundene Projekt des Romans — die Suche nach Bedeutung in einer realistischen Erzählung — wurde für die nächsten dreihundert Jahre zur kulturell vorherrschenden Form. Wir hören Robinson Crusoes Stimme in der Stimme von Jane Eyre, in den Aufzeichnungen des Manns aus dem Kellerloch, der Erzählung des unsichtbaren Manns und in den Einträgen von Sartres Roquentin. All diese Erzählungen hatten mich einmal begeistert, und schon im englischen Wort novel mit seinem Neuigkeitsversprechen hielt sich eine Erinnerung an jugendlichere Begegnungen, die so fesselnd waren, dass ich stundenlang stillsitzen konnte und nie auch nur an Langeweile dachte. In seinem Klassiker Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung erklärt Ian Watt den Boom der Romanproduktion im 18. Jahrhundert mit dem wachsenden Bedürfnis nach heimischer Unterhaltung, das Frauen empfanden, die — der traditionellen Aufgaben im Haushalt entbunden — zu viel Zeit hatten. Auf sehr direkte Weise war der englische Roman, Watt zufolge, aus der Asche der Langeweile gestiegen. Und Langeweile war es, woran ich litt. Je öfter man Ablenkung sucht, desto weniger effektiv ist jede einzelne, und so musste ich die diversen Dosen erhöhen, bis ich, eh ich mich’s versah, alle zehn Minuten meine E-Mails checkte und meine Tabakklumpen immer größer wurden und meine zwei abendlichen Drinks sich zu vier ausgewachsen hatten und ich es im Computer-Solitaire zu solcher Meisterschaft gebracht hatte, dass es nicht länger mein Ziel war, ein einzelnes Spiel zu gewinnen, sondern zwei oder mehr hintereinander — eine Art Meta-Solitaire, dessen Faszination weniger im Kartenspielen bestand als darin, auf den Wellen von Glück und Pech zu surfen. Meine bis dahin längste Gewinnsträhne war acht.