Er schaute zu den Kiefern hinauf. Der Schmerz der Erinnerung war ihm anzusehen. Ich fragte mich, wem er diese Geschichte schon erzählt haben mochte; dann fiel mir ein, was Marcellus gesagt hatte: dass Julian ihm wie ein Mann vorkomme, der schon zu lange ein Geheimnis für sich behalten hatte und es nun loswerden wollte.
Julian holte tief Luft und fuhr fort.
»Eines Tages, es war lange Zeit später, wurde mir erlaubt, in die Stadt zu gehen – streng bewacht von einem meiner Erzieher. Als er sich erleichtern ging, lief ich ihm davon und schlenderte durch die Kolonnaden und Säulenhallen. Dabei stieß ich auf ein paar Männer, die unter einem Ölbaum saßen und plauderten. Es waren Philosophen. Damals wusste ich noch nicht, was ein Philosoph ist. Aber ihnen zuzuhören war wie ein Regenguss nach langer Dürre. Ich wusste sofort, dass ich gefunden hatte, wonach sich meine Seele sehnte. In den darauffolgenden Jahren erkannte ich immer deutlicher, was die Priester mir hatten vorenthalten wollen. Für sie ist die Philosophie der Feind, weil sie die Menschen frei macht. Es gibt aber keine Freiheit ohne Wissen, nur Sklaverei und den endlosen Kreislauf des Nichtwissens. Und darum bin ich kein Christ mehr.«
Stille breitete sich aus, bis Marcellus schließlich bemerkte: »Aber du besuchst mit dem Bischof von Paris die Kirche der Christen.«
»Glaubt ihr, ich bin mein eigener Herr? All dieses Katzbuckeln, dieses ständige ›Ja, mein Cäsar, nein, mein Cäsar‹ bedeutet gar nichts. Ich gehe, weil ich muss. Jede Kleinigkeit wird dem Kaiser zugetragen. Sogar meine Freunde werden ausgeforscht und verhört.«
Er warf den Heidekrautzweig in das verlöschende Feuer und beobachtete, wie er verkohlte und verbrannte. »Nachdem ich den germanischen Gaukönig bei Straßburg besiegt hatte, sandte Constantius lorbeergeschmückte Briefe in die Provinzen, in denen sein Sieg bekannt gegeben und gepriesen wurde. Er ließ verbreiten, er selbst habe in vorderster Linie gekämpft, habe die Schlachtordnung aufgestellt und die Reihen der Barbaren aufgerieben. Habt ihr das gewusst? Dabei war er vierzig Tagesmärsche weit weg. Und ich, der dabei war, wurde gar nicht erwähnt. Jeder Sieg ist seiner, aber die Niederlagen habe ich zu verantworten. Folglich kann ich nur versagen. Das ist ihr Plan. Darauf warten meine Feinde bei Hof nur … und dann wollen sie mich vernichten.«
In den Tagen darauf drehte der Wind nach Norden und brachte zuerst Regen, dann bittere Kälte. Eines Morgens wachte ich auf, weil jemand Eis hackte. Es war Marcellus, der sich draußen am Wasserzuber waschen wollte.
»Es hat keinen Zweck«, sagte er und streckte den Kopf ins Zelt. »Es ist bis auf den Grund gefroren. Ich gehe zum Fluss.«
Ich stöhnte und zog mir die Decke über den Kopf. Plötzlich war Marcellus zurück und rief: »Steh auf, Drusus! Schnell! Am Kastell geht etwas vor.«
Ich zog mich an und eilte hinaus. Über dem Lager lag eine dicke Reifschicht. Es war noch früh. Der erste Schein der Dämmerung zeigte sich als blutroter Streifen am Horizont. Als wir den Fluss erreichten, lag das Kastell still da. Das Tor war mit allem versperrt, was die Franken hatten finden können. Die Erdarbeiten der Sappeure ruhten. An der Brustwehr war nirgends ein Gesicht zu sehen.
»Horch!« Marcellus nahm meinen Arm und zog mich den Hang hinunter ans Ufer. Die hohen, überfrorenen Grashalme knisterten und knackten unter jedem Tritt. Ich wollte ihm gerade vorwerfen, mir einen Streich zu spielen, als ich ferne Kratzgeräusche und den gedämpften Klang von Ziegeln hörte, die aufeinandergeschichtet wurden.
»Was tun sie da? Die Mauern erhöhen?«
»Im Gegenteil. Sie brechen die Mauer ab. Komm hierher, dann siehst du, was ich meine.«
Wir gingen bis an die Stelle, wo die Kastellmauer aus dem Fluss ragte, und behielten die Brustwehr sorgfältig im Auge. Auf diese Entfernung konnte ein gut geschleuderter Stein einem Mann den Schädel zertrümmern. Die Geräusche waren nun deutlicher zu hören. Marcellus legte mir die Hand auf die Schulter und lenkte meinen Blick an der Wasserlinie entlang. Und da sah ich es: Die Franken brachen das zugemauerte Seitentor an der Flussseite auf, indem sie den alten Mörtel herauskratzten und die Ziegel einen nach dem anderen entfernten. Doch vor ihnen lag der Fluss und sonst nichts.
Ich blickte Marcellus fragend an. »Aber wohin wollen sie? Sie haben keine Boote.«
»Du schläfst wohl noch, Drusus! Schau! Sie brauchen keine Boote.«
Ich sah genauer hin und riss die Augen auf. Das Wasser war unbewegt und sah aus wie trübes graues Glas: Der Fluss war zugefroren.
»Verstehst du jetzt? Sie wollen hinüberlaufen«, sagte Marcellus, ging in die Hocke und klopfte gegen das Eis.
»So ist das also«, sagte Julian, der kurz darauf zu uns kam. Severus war bei ihm, und schließlich kamen auch Arintheus und Victor vom Lager herbei.
»Wollen wir sie entkommen lassen?«, fragte Victor zornig. »Sie würden zurückkehren, sobald wir abgezogen sind. Ich gehe die Männer wecken. Wir können ihnen den Weg abschneiden, bevor sie den Wald erreichen.«
Julian hatte nachdenklich zugehört. »Nein, warte.« Er bückte sich und hob einen schweren Dachziegel auf, der vor seinen Füßen lag. Er drehte ihn in der Hand, schätzte das Gewicht; dann holte er aus und schleuderte den Ziegel wie einen Diskus über den Fluss.
Er landete mit dumpfem Aufschlag, rutschte über das Eis und blieb in der Strommitte liegen.
Wir blickten stumm zu der Stelle hinüber. Unser Atem dampfte in der Kälte. Severus setzte zum Sprechen an, doch Julian gebot ihm mit einer Geste, still zu sein.
Zuerst geschah nichts. Dann knackte es, als würde ein Ast brechen. Das Flusseis knirschte, und der Dachziegel neigte sich und rutschte ins Wasser, wo er verschwand.
Julian wischte sich den Reif von den Händen und drehte sich zu uns um. »Wie es scheint, haben sie ihren Plan zu früh offenbart. Victor, hol Männer zu den Booten.«
Den ganzen Vormittag hackten wir mit Äxten und Piken das Eis von unseren paar flachen Flussbooten. Die Franken kauerten entlang der Brustwehr und sahen grimmig zu, und ausnahmsweise waren sie einmal still. Noch vor Sonnenuntergang baten sie um Verhandlungen. Sie seien Krieger, sagten sie, und wollten keine Sklaven werden. Wenn der Cäsar bereit sei, sie ehrenvoll zu behandeln, würden sie sich ergeben. Wenn nicht, würden sie kämpfen bis zum letzten Mann.
Julian, der nichts weniger getan hätte, erklärte sich einverstanden. Er versprach, sie so zu behandeln, wie es Kriegern gebührt, und sie nach dem Osten zu senden, damit sie im Heer des Kaisers dienten, in das schon andere fränkische Stämme aufgenommen worden seien. Die Barbaren waren es zufrieden, denn kurz darauf kamen sie in ihren ranzigen Fellen aus dem Kastell, große Männer mit langen blonden Haaren, die ihnen wie Schnüre über den Rücken hingen.
Danach setzten wir das Kastell instand und bemannten es mit Römern. Vom gegenüberliegenden Ufer der Maas, im Schatten des dichten Waldes, sahen wir hellhaarige Männer, die uns beobachteten. Was immer sie geplant hatten, sie gaben es nun auf. Einen halben Tag lang blieben sie noch und sahen zu, wie ihre Stammesgenossen weggeführt wurden; dann verzogen sie sich in die endlosen Wälder.
Aber während sie noch dort waren, kam Florentius, um von der Mauer aus hinüberzuschauen.