Der Wind regte sich seufzend und rauschte durch die Bäume. Hinter uns flackerten die Fackeln auf den Palisaden des Lagers, und mit dem Wind kam Gelächter zu uns herüber.
Julian drehte sich um, und der ferne Schein der Flammen spiegelte sich in seinen dunklen Augen.
»Aber ich habe hier etwas gelernt. Ich habe gelernt, dass ein Mann es mit der Welt aufnehmen muss. Nur dann lernt er sein wahres Ich kennen und bringt es unter die Herrschaft der Vernunft. Die Priester meiner Kindheit fürchteten die Erhabenheit im Menschen und leugneten sie deshalb. Das Zeitalter der Helden war vorüber. Die schlechtesten Männer galten gleich viel wie die Besten, und alle waren Leibeigene ihres eifersüchtigen Gottes. So sieht ihre Wahrheit aus, und sie würden uns nach ihrer Vorstellung umerziehen. Wie hätten sie gelacht, wenn ich ihnen erzählt hätte, ich würde die Barbaren aus Gallien vertreiben. Doch hier stehe ich, und dort oben feiern die Männer, weil sie wissen, dass ihre Familien heute Nacht sicher sind. Ich bin der lebende Beweis, dass man über sich hinauswachsen kann. Doch zuerst braucht man Vorstellungskraft. Ohne sie bringt man nichts zustande.«
FÜNFTES KAPITEL
Es wurde kalt und klar, gutes Marschwetter. Kurz bevor das Heer den Rhein überquerte, ging ich durch das Lager und wurde von jemandem angerufen.
Der Tag brach gerade an, sodass mich die Sonnenstrahlen blendeten, die über die Palisaden schienen, als ich mich umdrehte. Ich beschirmte meine Augen und sah nur ein paar Schritte entfernt einen Mann stehen. Er hatte seine Kapuze übergestreift; aber dann zog er sie vom Kopf, und ich erkannte ihn.
Er war älter geworden, und eine frische Narbe verlief von der rechten Schläfe über die Wange und verschandelte das anziehende Gesicht, das mir so vertraut gewesen war. Doch die leuchtend blauen Augen und der ernste Mund waren noch dieselben.
»Durano!«, rief ich.
Er hatte unsicher geklungen, doch als er mich jetzt lächeln sah, schritt er auf mich zu, und wir fielen uns lachend in die Arme.
»Komm mit«, sagte er, den Arm um meine Schulter gelegt, wie er es immer getan hatte. »Ich will frühstücken gehen.« Unterwegs erzählte er mir, wie er kürzlich von Süden mit der Nachschubkolonne eingetroffen war.
Vor seinem Zelt hockte ein schmales, braunhäutiges Mädchen und machte Feuer. Er sprach ein paar muntere Worte in seiner Heimatsprache, die ich nicht verstand; daraufhin verschwand das Mädchen, um sogleich mit Brot, Käse und Wein zurückzukommen. Wir setzten uns auf die niedrige Bank und aßen. Während ich ein Stück von dem groben Brot abriss und in meinen Wein tunkte, fragte ich Durano nach seinen Kameraden, die ich in London kennengelernt hatte – Tascus, Romulus und Equitius.
Kauend runzelte er die Stirn und erzählte. Tascus hatte einen Streit zu viel angefangen, als er wieder einmal betrunken war, und wurde bei einer Rauferei in einer Schenke in den Hals gestochen. Romulus war in der Schlacht bei Straßburg gefallen.
»Und Equitius?«, wollte ich wissen.
»Er war mit Magnentius bei Mursa. Was dann aus ihm wurde, weiß ich nicht. Vielleicht hat er überlebt, doch viele sind gefallen.«
Eine Zeit lang unterhielten wir uns über die große Schlacht von Mursa und den Krieg zwischen Magnentius und Constantius. Das lag nun ein paar Jahre zurück; zu der Zeit lebte ich noch in London. Der Krieg hatte die Kräfte des Westens aufgezehrt, hatte die kaiserliche Familie entzweit und in der nachfolgenden Erschöpfung zu den Schrecken der Plünderungen durch die Barbaren geführt. Doch viel schlimmer noch waren die grausamen Ermittlungen wegen Verrats gewesen, die Paulus, der Notar, geführt hatte.
Andererseits hätte ich ohne den Krieg Durano nicht kennengelernt, denn der Krieg hatte ihn nach London geführt. Vielleicht hätte mein Leben einen ganz anderen Verlauf genommen. Ich zuckte die Achseln. Ich bin, was ich bin, dachte ich, und muss das Beste daraus machen. Es hat keinen Zweck, in der Vergangenheit zu stochern.
Auch Durano war still geworden. Als ich den Kopf drehte, hatte er den Mantel abgeschüttelt, sodass die Abzeichen an seiner Tunika zu sehen waren.
»Dann bist du jetzt also Zenturio«, stellte ich fest.
»Ja, ein Zenturio des obersten Ranges. Vor zwei Jahren wurde ich befördert.«
Er erzählte mir davon; dann plauderten wir über unser Leben, wichen aber den schmerzhaften Erinnerungen aus. Dabei dachte ich an den unsicheren Jungen, der ich gewesen war, eine einsame Waise. Durano hatte sich mit mir angefreundet, hatte mir gezeigt, wie man kämpft, und mein Herz für die Liebe geöffnet, als ich schon geglaubt hatte, niemals kämpfen oder lieben zu können.
Hinter seinem ungezwungenen Geplauder spürte ich, dass er sich ebenfalls daran erinnerte. Wunden heilen, aber die Narben blieben. Er war jetzt ein zäher, erfahrener Soldat. Aber ich hatte einen jüngeren, weicheren Durano gekannt, der viel gegeben und wenig dafür genommen hatte, und in meiner jugendlichen Dummheit hatte ich ihn gekränkt.
Vor uns ging seine Dienerin ihren Aufgaben nach. Sie hatte einen Armvoll Reisig geholt und kniete sich hin, um die Zweige zu zerbrechen und ins Feuer zu schieben. Ihre schwarzen Haare waren kurz geschnitten, sodass sie fast wie ein junger Soldat aussah, und um den Hals trug sie ein Amulett, einen geflochtenen Torques aus Bronze mit zwei Drachenköpfen an den Enden. Sie bemerkte meinen Blick und schaute weg, als ich sie anlächelte. Unter ihrer weiten, schlichten Kleidung steckte ein geschmeidiger Körper wie von einem jungen Läufer. Doch ihre Augen hatten nichts Kindliches; sie waren geheimnisvoll und nachdenklich und sprachen von vergangenem Leid.
»Die Germanen haben sie verschleppt«, erklärte Durano, der meinen Blick bemerkte. »Sie haben sie als Sklavin behalten, aber sie konnte fliehen. Ich habe sie im Wald gefunden.«
Ich fragte ihn, ob sie sein Eigentum sei.
»Nein, sie gehört mir nicht. Davon hat sie genug gehabt. Sie bleibt aus freien Stücken bei mir.« Er spuckte ins Gras und rieb den Speichel mit dem Fuß in den Boden. »Sie will nicht erzählen, was die Barbaren mit ihr angestellt haben. Aber nachts fährt sie noch immer erschrocken aus dem Schlaf hoch. Sie hasst die Germanen und würde eigenhändig gegen sie kämpfen, wenn sie könnte.«
Wir tranken von unserem Wein, und eine Zeit lang redeten wir über militärische Angelegenheiten: die bevorstehende Rheinüberquerung, Duranos Zenturie, den täglichen Lagerklatsch. Dann sagte er, als wäre ihm der Gedanke eben erst gekommen: »Du hast einen Freund bei der Reiterei. Er geht mit uns nach Germanien, und du bleibst hier.«
Ich blickte ihn an. »Stimmt. Du hast also gewusst, dass ich hier bin.«
Er lachte ein wenig verlegen, sodass seine Falten noch tiefer wurden. »Ja«, sagte er. »Aber die Zeit vergeht.«
Ich verstand. Er hatte schließlich seinen Stolz. Es wäre für ihn nicht infrage gekommen, mich ausfindig zu machen, nur um festzustellen, dass ich mich nicht mehr an ihn erinnerte oder erinnern wollte.
Ich spielte mit einem der Zweige im Feuer und sagte eine Zeit lang nichts.
Schließlich seufzte ich. »Ich war jung, Durano. Ich kannte mich selbst noch nicht. Aber so hätte ich dich nicht behandeln dürfen. Hättest du mir nicht so vieles beigebracht, wäre ich längst nicht mehr am Leben.«
Er deutete mit einer Geste an, dass ich zu viel Aufhebens davon machte. Doch ihm war anzusehen, dass er sich freute. Wenigstens war ich nicht mehr der gehemmte Junge, der nicht auszusprechen wagte, was er empfand. Ich streckte den Arm aus und berührte die Narbe an seiner Schläfe. Sie war nicht mehr ganz frisch, hatte aber noch eine dunkle Furche in der Mitte.