Ich bezwang mein Verlangen, hinzulaufen, und horchte mit angehaltenem Atem. Die Vögel zwitscherten laut, aber sonst war nichts zu hören. Auf Händen und Knien kroch ich an der Tür vorbei und erwartete jeden Moment, dass eine Schar schwertschwingender Krieger über mich herfiel.
Als ich näher kam, erkannte ich die vertraute breite Hand und den braunen Lederriemen am Handgelenk, den Marcellus schon seit seiner Kindheit trug.
Er war mit einem Seil an den Pfosten gefesselt. Wie Rufus war er ins Gesicht geschlagen worden, wenn auch nicht so schlimm. Sie hatten ihm den Gürtel und die Ledertunika abgenommen und ihm nur das dünne rote Leinenhemd gelassen. Darunter sah ich die sachten Bewegungen des Brustkorbs beim Atmen. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Sanft berührte ich ihn an der Schulter. Er riss die Augen auf, und ich bedeutete ihm hastig, kein Geräusch zu machen. Dann nahm ich meinen Dolch und machte mich daran, das Seil durchzuschneiden.
Es bestand aus geflochtenem Leder, und die Klinge rutschte nutzlos daran entlang. Ich zog das Seil stramm und drückte die Schneide mit aller Kraft nach unten. Marcellus zog ebenfalls. Mit lautem Schnappen riss das Leder, und ich fiel unbeholfen auf den Hintern.
Erschrocken blickte ich zur Tür.
Unter dem Vordach hatte der dumpfe Aufprall sich laut wie ein Trommelschlag angehört. Doch nichts rührte sich. Marcellus begann zu flüstern und erzählte, wie die Germanen sich die halbe Nacht lang betrunken hatten und dass ein Tritt an den Kopf nötig wäre, um sie zu wecken. Beinahe hätte ich laut gelacht. Doch dann, als ich uns schon sicher glaubte, ging es los: Krallen scharrten wütend an der Holztür, und wildes Gebell brach los.
Wir sprangen auf und rannten zu Gereon, der angespannt und mit schreckgeweiteten Augen auf uns wartete. Schon hörten wir drängende Stimmen aus dem Haus des Häuptlings, dann die schweren Türriegel.
Wir stürmten den Pfad hinunter. Die anderen waren an der Koppel und scheuchten die Pferde hinaus. Als ich zum Schweinekoben gelangte, riss ich das Gatter auf und wedelte schreiend mit den Armen, sodass die Sau erwachte, die Ferkel quiekend auseinanderstoben und ins Freie flitzten. Am Häuptlingshaus wurden die Hunde losgelassen. Ich sah sie hinter uns herhetzen, und sie holten schnell auf.
»Da entlang!«, rief ich und zog Marcellus mit.
Wir schwenkten vom Pfad ab ins hohe Gras und rannten weiter, stolperten über verborgene Wasserläufe und sumpfige Tümpel. Das bremste uns zwar, brachte aber wie erhofft die Hunde von unserer Fährte ab. Wir waren fast schon am Ziel, wo das Gras auf den Bach am Waldrand stieß und die anderen warteten. Doch Gereon, der zehn Schritte hinter uns rannte, schrie plötzlich auf und stürzte. Ich hielt an und drehte mich um. Ein Hund hatte sich auf ihn gestürzt und biss knurrend zu. Ich rief Marcellus zu, er solle weiterlaufen, und zog meinen Dolch.
Gereon wehrte das Tier ab, das nach seinen Unterarmen schnappte und versuchte, ihm an die Kehle zu gehen. Der Hund drehte den Kopf, als ich mich näherte. Er musste mich gewittert haben. Knurrend ließ er von Gereon ab, starrte mich sprungbereit an und bleckte seine blutigen Zähne. Langsam rückte ich vor, mit seitlichen Schritten, und vollführte eine Ringerfinte, die ich kannte. Wie erhofft sprang das Tier von Gereon herunter und griff mich an.
Es war stark und schnell und hatte ein großes, kräftiges Maul. Doch ich war flinker. Ich drehte und duckte mich gleichzeitig und stieß ihm mein Messer in die Seite. Das Tier heulte auf, aber der Stich war nicht tödlich, und so schnellte es zu mir herum und schnappte nach meinem Gesicht. Gereon, der jetzt die Hände frei hatte, zog seinen Dolch, taumelte heran und stieß ihn dem Hund in die Kehle. Ein blubberndes Zischen war zu hören; das Tier schüttelte sich röchelnd, dann fiel es tot zu Boden.
Uns blieb keine Zeit, ein Wort zu wechseln. Keuchend rannten wir weiter. Gereon blutete am linken Arm. Als wir die anderen erreichten, kauerte er sich an den Bach, und ich half ihm, die Wunde zu säubern. Inzwischen herrschte im ganzen Dorf lautes Geschrei. »Wir müssen hier weg«, mahnte Durano.
Wir rannten platschend durch den kalten Bach, um unsere Fährte zu verwischen, und drangen am anderen Ufer in das tiefe Dunkel des Waldes vor. Dort folgten wir einer engen Schlucht, wo der Bach klar in einem Kieselbett unter überhängenden Zweigen dahinfloss. Ich bildete ein paar Schritte hinter den anderen den Schluss. An einem großen glatten Felsbrocken änderte der Bach seinen Lauf. Als die anderen dahinter abschwenkten, verlor ich sie aus den Augen.
Ich sah die zottige Gestalt erst, als sie zuschlug. Einen Moment glaubte ich, es sei ein Bär oder irgendein anderes wildes Tier aus dem Wald. Doch im Fallen sah ich den eisenbeschlagenen Gürtel über dem Fell und erkannte, dass es ein Mann war. Er musste auf einem kürzeren Weg über den Kamm gekommen sein oder hatte hinter dem Felsen auf der Lauer gelegen, zwischen den Weidensträuchern und Farnbüschen. Ich konnte nicht einmal mehr nach meinem Dolch greifen. Der Mann hielt mich mit seiner massigen Gestalt unter Wasser gedrückt, sodass ich keine Luft bekam. Ich fühlte, wie er sich bewegte, und sah durch das Wasser, wie er zum tödlichen Schlag ausholte.
Mit letzter Kraft trat ich zu und drehte mich. Mein Gegner schien zu zögern. Ich brach mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und saugte Luft in die Lungen. Dabei sah ich, warum der Mann gezögert hatte. Marcellus saß auf seinem Rücken und hielt ihn umklammert wie ein Kind ein buckelndes Pferd, während der Barbar brüllend mit dem Dolch nach ihm hieb. Ich griff an meinen Gürtel, doch mein Messer war verschwunden. Ich musste es beim Sturz verloren haben. Hastig tastete ich neben mir in dem Bachbett über die Steine, bekam aber nur Kiesel und Sand zwischen die Finger. Doch als ich den Kopf drehte, sah ich zwei Schritte entfernt die Klinge bläulich silbern im aufgewühlten Wasser blinken, knapp außerhalb meiner Reichweite.
Mit einem Ruck reckte ich den Oberkörper zur Seite. Für einen Moment fühlte ich nur weichen Sand und konnte nicht näher heranreichen. Aber endlich berührten meine Fingerspitzen den kordelumwundenen Griff. Ich bekam ihn zu fassen. Brüllend fuhr ich mit dem Oberkörper hoch und versenkte die Klinge in dem nassen Fell über mir. Marcellus fiel ins Wasser; dann waren Gereon und Durano bei uns. Ich stach erneut zu. Mein Angreifer fuhr schreiend herum. Einen Moment lang begegneten sich unsere Blicke; dann taumelte er, kippte vornüber in das blutverschleierte Wasser und bewegte sich nicht mehr.
Ich kam auf die Beine und rang nach Luft, die Hände auf die Knie gestützt. Mein Bein blutete, aber der Schnitt war nicht tief. Neben mir versetzte Durano dem Toten fluchend einen Tritt. Ich sah, dass Marcellus sich die Seite hielt.
»Ist nur ein Kratzer …«, sagte er, als er meinen Blick auffing. Doch sein Gesicht verriet ihn. Und dann quoll auch schon das Blut zwischen seinen Fingern hindurch, strömte über seine Tunika und tropfte wie große rote Tränen ins Wasser.
Ich rannte zu ihm. »Sei nicht dumm, lass mich sehen.« Ich zerrte seine Hand weg, zog sein Hemd hoch und sah eine klaffende Wunde in der Seite, ungefähr auf Höhe der Rippen. Bei jedem Atemzug quoll neues Blut hervor.
Ich setzte ihn hin. »Du zitterst.«
»Weil ich durchnässt bin. Das Wasser war kalt.« Er versuchte zu lächeln. Stattdessen keuchte und hustete er. Als er aufblickte, sah ich Blut zwischen seinen Lippen.
Durano war derweil die Böschung hinaufgeklettert, um sich zu vergewissern, dass der Krieger allein gewesen war. Er kam zurück, während ich einen Streifen Tuch von meinem Unterhemd abriss, um Marcellus zu verbinden. Durano ging in die Hocke und besah sich die Wunde; dann half er mir, einen festen Verband anzulegen. »Wir müssen weiter«, sagte er besorgt. »Die Horde wird nicht mehr weit hinter uns sein.«