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Aber es ging weiter. Tag für Tag und Nacht für Nacht, bis die Parks der Stadt Sümpfen glichen und in den Ritzen des Straßenpflasters Schimmel zu wachsen begann. Bäume verloren im durchweichten Erdreich ihren Halt und stürzten um, und die Keller der Häuser in der Nähe des Flusses verwandelten sich in Planschbecken.

Wären nicht St. James' Geschwister gewesen — die sämtlich mit Ehepartnern, Lebensgefährten und Kindern erschienen — und seine Mutter, so wären die einzigen Gäste bei der Ausstellungseröffnung seiner Frau deren Vater und eine Hand voll enger Freunde gewesen, deren Loyalität offenbar stärker war als ihre Vorsicht, sowie fünf Fremde. Manch hoffnungsvoller Blick richtete sich auf diese Personen, bis sich herausstellte, dass drei von ihnen nur vor dem Regen in die Galerie geflüchtet waren und die beiden anderen lieber hier auf einen Tisch bei Mr. Kong's warteten als in der Schlange vor dem Restaurant.

Wie St. James bemühte sich auch der Galerist, ein Mann namens Hobart, Deborah zuliebe gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und riet ihr:»Denken Sie sich nichts, Schätzchen. Die Ausstellung läuft noch den ganzen Monat, und sie ist erste Qualität. Schauen Sie, wie viel Sie schon verkauft haben. «Woraufhin Deborah mit der für sie typischen Ehrlichkeit antwortete:»Und schauen Sie, wie viele Verwandte meines Mannes hier sind, Mr. Hobart. Wenn er mehr als drei Geschwister hätte, hätten wir alles verkauft.«

Ganz Unrecht hatte sie damit nicht. St. James' Familie war großzügig in die Bresche gesprungen, aber für Deborah war es nicht das Gleiche, ob die Verwandten ihres Mannes ihre Bilder kauften oder Fremde.»Ich habe das Gefühl, sie haben nur aus Mitleid gekauft«, hatte sie im Taxi nach Hause niedergeschlagen gesagt.

Darum wäre St. James die Gesellschaft Thomas Lynleys und seiner Frau in diesem Moment so willkommen gewesen: Weil er nach dem Desaster dieses Abends zwangsläufig die Rolle des Verteidigers von Deborahs Talent und Können würde übernehmen müssen und sich dafür nicht gerüstet fühlte. Er wusste, dass sie ihm kein Wort glauben würde, auch wenn er selbst voll hinter jedem seiner Argumente stand. Wie so viele Künstler wollte sie ihre Kunst in irgendeiner Form von außen anerkannt sehen. Er war aber kein Außenseiter, darum half sein Zuspruch nichts. Und ebenso wenig der ihres Vaters, der ihr die Schulter getätschelt und philosophisch gesagt hatte:»Tja, das Wetter kann man nicht ändern«, bevor er nach oben in sein Bett verschwunden war. Aber mit Lynley und Helen war das anders, und darum wollte St. James sie dabei haben, wenn er es endlich schaffte, das Thema Vernissage anzusprechen.

Aber es sollte nicht sein. Er sah selbst, dass Helen todmüde war und Lynley entschlossen, sie so schnell wie möglich nach Hause zu bringen.»Fahrt vorsichtig«, sagte er darum nur.

«Kopf hoch!«, entgegnete Lynley mit einem Lächeln.

St. James sah ihnen nach, als sie durch den strömenden Regen die Cheyne Row hinaufeilten. Erst als sie ihren Wagen erreicht hatten, schloss er die Haustür und wappnete sich für das Gespräch, das ihn in seinem Arbeitszimmer erwartete.

Abgesehen von der kurzen Bemerkung zu Mr. Hobart, hatte Deborah sich bis zur Taxifahrt nach Hause bewundernswert tapfer gehalten. Sie hatte mit ihren gemeinsamen Freunden geplaudert, die Familie ihres Mannes freudig begrüßt und ihren alten Mentor, Mel Dox- son, von Bild zu Bild geführt, um sich über sein Lob zu freuen, aber auch die kluge Kritik, die er an ihrer Arbeit äußerte, zur Kenntnis zu nehmen. Nur jemand, der sie sehr lange kannte — wie St. James — , hätte den trüben Schatten der Niedergeschlagenheit in ihren Augen bemerkt, hätte an ihren wiederholten schnellen Blicken zur Tür erkannt, wie sehr sie törichterweise ihre Hoffnungen auf die Zustimmung irgendwelcher Fremder gesetzt hatte, deren Meinung ihr unter anderen Umständen keinen Pfifferling wert gewesen wäre.

Sie stand bei seiner Rückkehr ins Zimmer noch immer dort, wo er sie zurückgelassen hatte, als er die Lynleys zur Tür brachte: vor der Wand, an der er stets eine Auswahl ihrer Fotografien hängen hatte. Die Hände auf dem Rücken zusammengekrampft, stand sie da und starrte die Bilder an.

«Ich habe ein ganzes Jahr meines Lebens vertan«, sagte sie.»Ich hätte in dieser Zeit einer geregelten Arbeit nachgehen und ausnahmsweise mal Geld verdienen können. Ich hätte bei Hochzeiten fotografieren können oder so was. Bei Debütantinnenbällen. Taufen. Bar-Mizwas. Geburtstagspartys. Ich hätte Porträts von eitlen alten Männern und ihren jungen Preiskühen machen können. Was noch?«

«Touristen im Kreis der Royals aus Pappe?«, meinte er.»Das hätte wahrscheinlich einiges eingebracht, wenn du dich vor dem Bucking- ham-Palast postiert hättest.«

«Es ist mir ernst, Simon«, erklärte sie, und an ihrem Ton merkte er, dass Unbekümmertheit von seiner Seite nichts leichter machen und ihr ganz gewiss nicht helfen würde, zu erkennen, dass die enttäuschende Resonanz an diesem einen Abend in Wirklichkeit nicht mehr war als ein vorübergehender Rückschlag.

Er trat neben sie vor die Wand und betrachtete ihre Bilder. Sie ließ ihn stets aus jeder Reihe, die sie produzierte, die Aufnahmen auswählen, die ihm die liebsten waren, und das, was im Moment an seiner Wand hing, gehörte seiner nicht unbedingt fachkundigen Meinung nach mit zum Besten, was sie je gemacht hatte: sieben Studien in Schwarz-Weiß, bei Tagesanbruch in Bermondsey aufgenommen, wo Händler, bei denen von der Antiquität bis zur Hehlerware alles zu haben war, gerade ihre Stände aufbauten. Ihn sprach die Zeitlosigkeit der Szenen an, der Eindruck eines London, das sich niemals änderte. Ihn faszinierten die Gesichter, wie das Licht der Straßenlampen auf sie fiel und wie die Schatten sie verzerrten. Ihn sprach an, was diese Gesichter ausdrückten: Hoffnung das eine, Durchtriebenheit ein anderes, Argwohn, Verdrossenheit, Geduld die übrigen Mienen. Er dachte, dass seine Frau mit der Kamera mehr als nur talentiert war. Sie besaß eine außergewöhnliche Begabung.

Er sagte:»Jeder, der sich im Bereich der Kunst einen Namen machen will, fängt ganz unten an. Nenne mir den Fotografen, den du am meisten bewunderst, und es wird garantiert jemand sein, der als kleiner Handlanger angefangen hat, als einer, der einem anderen, der einmal genauso angefangen hat, die Lampen und die Kabel schleppte. Es wäre schön, wenn es beim Erfolg nur darum ginge, gute Fotos zu machen und danach nur noch die Lorbeeren einzuheimsen. Aber so ist es eben nicht.«

«Mir geht's überhaupt nicht um die Lorbeeren.«

«Du meinst, du kommst dir vor wie der Hamster im Laufrad? Ein Jahr und wie viele Bilder später?«

«Zehntausenddreihundertzweiundzwanzig.«

«Und du bist wieder da, wo du angefangen hast. Richtig?«

«Keinen Schritt weiter. Ohne die geringste Ahnung, ob das alles hier — dieses Leben — überhaupt meine Zeit wert ist.«

«Mit anderen Worten, die Erfahrung allein reicht dir nicht. Du sagst, dass Arbeit nur etwas wert ist, wenn sie ein Resultat zeitigt, das du haben wolltest.«

«Nein, das ist es nicht.«

«Was dann?«»Ich muss glauben, Simon.«

«Woran?«

«Ich kann nicht noch einmal ein Jahr als Freizeitkünstlerin vertun. Ich möchte mehr sein als Simon St. James' kunstbeflissene Ehefrau, die in Jeans und Springerstiefeln rumläuft und aus Jux und Tollerei ihre Kameras kreuz und quer durch London schleppt. Ich möchte etwas zu unserem Leben beisteuern. Und das kann ich nicht, wenn ich nicht glaube.«

«Solltest du dann nicht erst mal an den Entwicklungsprozess glauben? Wenn du dir jeden Fotografen ansähst, mit dessen Arbeit du

dich befasst hast, würdest du dann nicht jemanden sehen, der anfangs — «

«Das meine ich nicht!«Sie drehte sich mit einer schwungvollen Bewegung zu ihm um.»Keiner braucht mich davon zu überzeugen, dass man ganz unten anfangen und sich langsam hocharbeiten muss. Ich bilde mir nicht ein, dass gleich nach meiner ersten Ausstellung die National Portrait Gallery bei mir anklopft und Proben meiner Arbeit haben will. Ich bin nicht blöd, Simon.«